Von Jasmin Fürbach

Der Wind blies stärker als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Sie sah sich nicht um, ließ sich in ihrem Sessel nieder und starrte hinaus. Schneeflocken wirbelten vor ihrem Fenster und ließen sie an glücklichere Tage denken. Die Frage des Abendessens kam aus der Küche gerufen. Sie drehte sich nicht nach ihm um, blieb unbeteiligt. Er wusste besser, als sie in dieser Stimmung anzusprechen. Der Geruch von Essen war es, der sie aus ihrer Starre erweckte. Sie schlenderte an den Esstisch, Augen auf den Boden gerichtet und verweigerte während der gesamten Mahlzeit jedes Wort. Die Distanz zwischen ihnen war sichtbar anhand ihrer Sitzposition. Ironisch verzerrt und doch akkurat repräsentierte der Spalt in der Mitte des Holzes die Trennlinie zwischen ihrer beider Leben. Lange Zeit schon hatte ihre Beziehung sich in tentative Koexistenz entwickelt, jeder darauf bedacht, die Grenze nicht zu übertreten. Anfangs hatte sie Ärger empfunden, Trauer beinahe, doch nun war nichts dergleichen mehr übrig. Leere hatte sich in ihrem Herzen breitgemacht, hatte ihr Wesen für sich eingenommen. Wieder wandte sich ihr Blick gen Fenster, wünschte sie sich draußen im Schnee zu stehen und die Kälte auf ihrer Haut zu fühlen. Die Wärme des Hauses hatte etwas Erdrückendes an sich, schien überall und doch nicht nah genug zu sein. Ohne Vorwarnung erhob sie sich, griff nach ihren Schlüsseln und trat vor die Tür. Der Wind war beißend und laut, rauschte in ihren Ohren wie das Meer an einem Sommertag. Es dauerte einen Moment bis sie die Wärme abgeschüttelt hatte.  Langsam kroch die Kälte an ihren Armen hinauf, über ihre Finger, ihre Handgelenke, umschmeichelte ihre Schlüsselbeine, ihr Gesicht, ließ sie zittern und doch nicht umkehren. Ihr Atem hing schwer in der Luft, kleine Rauchwölkchen materialisierten vor ihrem Mund, ihrer Nase. Sie sahen eigenartig aus, wie sie vor ihr schwebten um schließlich wieder zu verschwinden. Schnee hatte den Weg zu ihrer Gartentür bedeckt. Ihr Gang war vorsichtig, bedacht nicht auszurutschen, wenngleich ihre Füße sicher auftraten. Kein Mensch begegnete ihr auf der Straße, sie alle bevorzugten die Wärme ihrer Häuser gegenüber der Kälte der Welt. Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken als ihr die Ironie der Situation bewusst wurde. Es schien falsch, schien es nicht? Sich willentlich in den Schneesturm zu begeben, um das Eis auf ihrer Haut, den Wind in ihrem Gesicht zu fühlen. Willentlich die Kälte der Wärme vorzuziehen, während doch so viele andere den Kopf darüber schütteln, sich abwenden würden. Kein Mensch war zu sehen, als sie den Park betrat, kein Läufer drehte seine Runden, nicht einmal die Vögel zwitscherten mehr. Die Kälte schien nicht nur die Wärme mit sich genommen zu haben. Jede Regung, jedes Geräusch schien verschwunden, verschluckt zu sein. Sie setzte sich auf eine schneebedeckte Bank, bewunderte das Rauschen der Flocken um sich herum. Der Brunnen zu ihrer rechten spie kein Wasser, war erstarrt, so wie sie in einem Meer aus Eis und Schnee. Doch sie fror nicht. Wie lange sie auch in dieser Haltung verharrte, gekleidet lediglich in ihren durchnässten Mantel, sie fror nicht. Stunden später, so kam es ihr vor, erhob sie sich und strebte den Heimweg an. Im Vorbeigehen blickte sie sich um, spähte in die hell erleuchteten Fenster der Häuser und sah Familien an ihren Esstischen in Gespräche vertieft. Sie maß sich nicht an sich in eine ähnliche Situation zu wünschen, wusste es war ihr nicht gegeben. Das Haus lag im Dunkeln als sie über die Schwelle trat. Er musste bereits zu Bett gegangen sein, hatte nicht auf ihre Rückkehr gewartet. Für einen Moment, einen kurzen Augenblick erwog sie die Möglichkeit ihre Sachen zu packen und zu gehen, wieder hinaus in die Kälte der Nacht. Sie verwarf die Idee, ermahnte sich so, gedacht zu haben.

Die Tage verstrichen und der Schneesturm wurde stärker. Sie sah sich außerstande das Haus zu verlassen. Wetterwarnungen im Fernsehen und Radio hatten ihren Eindruck auch bei ihr hinterlassen. Und doch wünschte sie sich nichts sehnlicher, als der Enge des Hauses zu entkommen. Es schien ihr unmöglich noch länger mit ihm eingesperrt zu sein. Sie waren es beide nicht gewohnt, derartig viel Zeit auf engem Raum miteinander zu verbringen. Vielleicht war das der Grund für die ständig präsente Trennlinie zwischen ihnen, die sie davon abhielt aufeinander einzugehen. Streit lag in jedem Atemzug, Ärger trübte die Stimmung. Eines Morgens erwachte sie zu einem lauten Geräusch aus der Küche. Es dauerte nicht lange, bis sie den Ursprung des Lauts dem Zerspringen ihrer Lieblingstasse zuordnete. Er sah sie nicht an, stürmte hinaus, ohne die Scherben aufzusammeln. Sie kniete nieder, hob sie vorsichtig auf, als hielte sie etwas Kostbares in Händen. Der Verlust traf sie härter, als es eine Tasse wert war. Sie sah sich von dem plötzlichen Bedürfnis überwältigt, auch seine Tasse an die Wand zu werfen, etwas zu zerstören, das ihm am Herzen lag. Stattdessen ging sie ihm nach, stellte ihn zur Rede. Ein Streit entbrannte, schlimmer als je zuvor. Hitze stieg in ihr auf, ließ sie Dinge sagen, die ihr seit langem auf der Zunge gelegen hatten. Dann, plötzlich, meinte sie einen Lufthauch an ihrer Haut zu fühlen. Sie schenkte ihm wenig Beachtung, hielt nicht ein in ihrem Zorn. Erst als die Kälte ihre Schultern erreichte und sie fröstelte, den Atem vor ihrem Mund hängen sah, verstummte sie. Sie sah sich um. Kein Fenster war geöffnet, die Tür fest verschlossen und doch hatte die Kälte ihren Weg herein gefunden und hing nun zwischen ihnen wie eine undurchdringliche Wand. Er schien es nicht zu bemerken, ereiferte sich immer mehr bis er nur noch schrie. Sie war verstummt, erstaunt über seine Ignoranz. Die Kälte half ihr für einen Moment, half ihr sich zu sammeln. Sie schrie zurück, warf Anschuldigungen und Flüche durch den Raum als wären sie Pfeile. Je höher die Wut, je mehr sie schrie, desto weiter breitete sich die Kälte in ihr aus. Erst wanderte sie über ihre Arme, schien sie blau zu färben, dann weiter zu ihrem Haar, bis sie Eiskristalle ihre Wangen wie Tränen hinabfallen sah. Mit jedem Wort schien sie mehr zu gefrieren wie der Brunnen im Park auch gefroren war. Die Bewegung ihrer Arme wurde langsamer, steifer. Endlich sah sie auch eine Veränderung über ihn kommen. Auch er schien kühler zu werden, statischer. Das Licht das zuvor das Zimmer erhellt hatte, war verdunkelt als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen. Die Worte auf ihrer beider Zungen wurden schwerer, ließ sie innehalten. In einem Moment völliger Klarheit trafen sich ihre Blicke. Sie meinte Resignation in seinen Augen zu erkennen. Das plötzliche Bedürfnis nach ihm zu greifen überwältigte sie, ließen sie nach vorne taumeln. Sie tat einen Schritt auf ihn zu aber die Wand aus Eis zwischen ihnen blieb bestehen. Die Kälte war unerträglich, fühlte sich an wie scharfe Schnitte in ihrem Bauch. Für einen Augenblick wünschte sie die Wärme zurück, wünschte sich eine weitere Chance zu bekommen, um es noch einmal zu versuchen, zu kämpfen. Doch es war bereits zu spät. Die Distanz zwischen ihnen war zu weit, die Wand zu dick. Sie hatten verloren. Und nun blieb ihnen nichts, als einander in die Augen zu sehen, durch eine Wand aus Eis hindurch. Sie fühlte ihre Beine schwer werden, unbeweglich auf dem Boden haftend. Sie hob ihre Hand als wolle sie sie nach ihm ausstrecken. Ein sanftes Lächeln verzog seine Lippen. Seine Augen blinzelten einmal, zweimal, dann erstarrten sie. Ihr Atem hing vor ihr in der Luft und sie erinnerte sich zurück an die Rauchwolken die ihr solche Freude bereitet hatten. Sie hob den Blick. Sah ihn an, unbeweglich in der Bewegung erstarrt. Ein Atemzug. Es war so still. Eine Träne gefror auf ihrer Wange, dann erstarrte auch sie zu einer Figur aus ewigem Eis.