Von Ramona Großmüller

Der Schneesturm wurde immer heftiger. Die dicken Flocken peitschten ungestüm gegen die Scheibe und machten es beinahe unmöglich, die Fahrbahnmarkierung im Auge zu behalten. Ich drosselte das Tempo meines Autos und kroch im Schneckentempo über die schneebedeckte, rutschige Straße durch ein großes Waldgebiet mitten im Nirgendwo.

Plötzlich durchfuhr ein heftiger Ruck das ganze Fahrzeug. Panisch umklammerte ich das Lenkrad, unsicher, was die Ursache war. Ich schaffte es gerade noch, mein Auto auf den Seitenstreifen zu lenken, ehe es zum Stillstand kam. „So ein Mist“, fluchte ich. Alle weiteren Versuche den Motor wieder zu starten, schlugen fehl. Da ich keine Ahnung hatte, was ich nun tun sollte, machte ich mich auf die verzweifelte Suche nach einem Handbuch. Aber weder das Handschuhfach noch diverse Ablagefächer gaben irgendetwas hilfreiches preis. „Na schön“, seufzte ich, „das hätte mir sowieso nicht viel geholfen.“ Ich kramte kurz in meiner Handtasche herum und beförderte mein Handy ans Tageslicht. Die eingespeicherte Nummer des Pannendienstes war schnell gefunden und ich betätigte die Wahltaste.

Kein Empfang!

„Das ist doch nicht zu fassen“, stöhnte ich. Ich zog mir meine Mütze tief ins Gesicht und knöpfte die Jacke bis oben hin zu. Dann warf ich einen letzten gequälten Blick nach draußen und stürzte mich in das Chaos aus Schnee und Eis. Sofort schlug mir die Kälte beißend ins Gesicht und ein frostiger Schauer durchfuhr meinen aufgewärmten Körper. Die umherwirbelnden Schneeflocken ließen mich wie wild mit den Augen blinzeln, während ich unermüdlich zwischen Straße und Wald durch den tiefen Schnee stapfte. Und endlich, als ich kaum mehr von einem Schneemann zu unterscheiden war, blinkte das erlösende Signal auf.

„Danke“, murmelte ich erleichtert und war höchst erfreut, als sich nach etlichen Minuten Warteschleife die freundliche Stimme eines jungen Servicemitarbeiters meldete. Halb durchgefroren und mit tauben Fingern erklärte ich ihm in aller Dringlichkeit meine Situation. Er hörte mir aufmerksam zu und gab mir dann äußerst charmant zu verstehen, dass sie aufgrund der aktuellen Wetterlage leider komplett überlastet sind und ich mich wohl ein paar Stunden gedulden muss, bis jemand bei mir eintrifft.

Ein paar Stunden? Das war nun wirklich nicht das, was ich hören wollte. Es war kalt und nass und ich war in dieser Einöde völlig allein. Auf gar kein Fall wollte ich hier auf unbestimmte Zeit ausharren. Es folgte eine ausgedehnte Schimpftirade meinerseits, die der junge Mann schweigend über sich ergehen ließ. Am Ende merkte ich auch wieso – der Akku meines Handys war leer gegangen. In meiner Rage hatte ich das nicht einmal bemerkt. „Na wunderbar.“, dachte ich wütend, „Jetzt sitze ich hier wirklich fest.“ Ich steckte meine eisigen Finger in die Jackentasche und stapfte gereizt zurück zu meinem Auto.

„Und was jetzt?“, fragte ich mich. Bis Hilfe kam, war ich wahrscheinlich erfroren. Zumal ich von meinem Ausflug nach draußen ziemlich durchnässt war. Ich beschloss, mein Auto auf den Kopf zu stellen und eine kurze gedankliche Bestandsaufnahme zu machen: ein Haargummi, eine leere Cola Dose, ein Kugelschreiber, eine Packung Kaugummis, ein einzelner Socken, eine alte Erdnuss und ein zerfledderter Reiseführer von Schweden. Tja, das war alles, was mir die nächsten Stunden zur Verfügung stand. Herzlich wenig und nicht gerade hilfreich.

Ich stellte das Radio an, um mich etwas abzulenken und trällerte die Songs aus dem Lautsprecher lauthals mit. Aber auch diese Freude sollte nicht von Dauer sein. Zunehmendes Rauschen machte es bald unmöglich, ein vernünftiges Wort zu verstehen. Ich stellte das Radio also wieder aus und war mir hinreichend sicher, dass sich heute alles gegen mich verschworen hat. Aber wahrscheinlich war ich selbst schuld. Niemand kam bei einem solchen Wetter auf die Idee, diese abgelegene Strecke zu nehmen. Außer mir natürlich. Und jetzt war ich ihre Gefangene. Ich begann die Schneeflocken zu beobachten, die um mich herum sanft und lautlos zu Boden fielen und hing bibbernd und verloren meinen Gedanken nach.

Ein Klopfen an der Fensterscheibe riss mich plötzlich aus meiner Trance. Erschrocken fuhr ich zusammen und stieß einen schrillen Schrei aus. Ein Bär von einem Mann mit ernstem und von der Kälte gerötetem Gesicht stand neben meinem Auto. Ein paar weiße, lange Strähnen lugten unter seiner Kapuze hervor. Der schneebedeckte Mantel wirkte alt und abgetragen, genauso wie die ledernen Stiefel. Der Mann vom Pannendienst war er jedenfalls nicht und ich öffnete dir Tür etwas zaghaft.

„Guten Tag, junge Dame. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Mein Name ist Joe. Es sieht so aus, als könnten Sie Hilfe gebrauchen“, stellte er mit tiefer aber freundlicher Stimme fest.

Im selben Moment bemerkte ich, dass er nicht allein war. Doch es war nicht der Hund, der seine Aufmerksamkeit auf mich zog, sondern das tote Kaninchen, das schlaff über seiner Schulter baumelte.

„Äh hallo. Nun ja, mein Auto hat wohl eine Panne. Der Pannendienst ist aber schon verständigt.“ Aus einem ersten Impuls heraus kam es mir klüger vor, diese Tatsache zu erwähnen.

„So, so und das bei diesem fürchterlichen Wetter. Das wird wohl noch eine Weile dauern. Wir sind gerade auf dem Weg nach Hause. Kommen Sie doch mit und wärmen Sie sich auf. Hier draußen holen Sie sich noch den Tod.“

„Sie wohnen hier draußen?“, fragte ich skeptisch.

„Ja, meine Frau, der gute Joseph und ich. Haben eine kleine Hütte im Wald. Schön ruhig und ungestört ist es hier. Kommen Sie mit. In fünf Minuten sitzen Sie vor dem Kamin und haben etwas Warmes im Magen. Meine Frau wird sich über Ihre Gesellschaft freuen.“

Unwillkürlich glitt mein Blick zu dem toten Kaninchen. Dennoch klang es mehr als verlockend. Ich saß bereits eine Stunde hier fest und die Aussicht auf ein Feuer und etwas Warmes zu Essen ließ meinen steifen Körper beinahe euphorisch aufspringen. Gleichzeitig mahnte mich mein Verstand zur Vorsicht. Zweifelsfrei war das eine herrliche Verlockung. Aber die gegebenen Umstände durften mich nicht unvorsichtig werden lassen. Trotz seiner freundlichen Worte war er ein Fremder, der mich mitten in einem Schneesturm auf einer einsamen Landstraße aufgabelte und in seine Hütte im Wald einlud. Das bot reichlich Stoff für einen Thriller.

Doch im selben Moment kam mir dieser Gedanke geradezu lächerlich vor. Der Mann schien nett zu sein und in Anbetracht meiner Situation war das ein äußert großzügiges Angebot. Warum musste ich gleich das Schlimmste befürchten? Nun wahrscheinlich, weil die Medien heutzutage voll sind von Nachrichten, die sich um Gewalt, Misstrauen und Anfeindungen drehten. Kein Wunder, dass man dazu neigte, dieses Verhalten unterbewusst anzunehmen. Natürlich wirkte er alles in allem etwas zerlumpt und das tote Kaninchen tat sein Übriges aber jedes Vorurteil tat ihm wahrscheinlich unrecht.

Ich haderte noch eine Weile mit mir selbst und schlug mir in Windeseile sämtliche Pro und Contra Argumente um die Ohren. Aber letztendlich gewann die Vorsicht die Oberhand.

„Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich warte lieber hier. Am Ende verpasse ich noch den Pannendienst.“

„Nun gut, wie Sie meinen. Aber wenn Sie es sich doch anders überlegen, gehen Sie einfach zweihundert Meter in diese Richtung. Sie können es nicht verfehlen.“ Und damit verschwanden sie im dichten Wald.

„So ein Mist“, rief ich und schlug mit beiden Fäusten auf das Lenkrad. Kaum war er weg, bereute ich meine Entscheidung. Ich seufzte tief und versuchte mit aller Macht, meine Gedanken auf andere Dinge zu lenken. Doch es gelang mir nicht. Das war doch wirklich lächerlich. Ich bibberte vor Kälte am ganzen Körper, hatte blaue Fingernägel und meine Lippen fühlten sich taub an, während nicht weit von hier ein gemütliches Heim auf mich wartete, das mir Zuflucht gewähren und mich vor einer Unterkühlung oder Schlimmerem retten konnte.

Ich sah die Schlagzeile schon vor mir: Junge Frau lehnt Hilfe bei Schneesturm ab – erfroren!

Ich war hin- und hergerissen. Nach wie vor wusste ich nicht, wie lange ich noch warten musste. Im Auto war es mittlerweile genauso kalt wie draußen und mein ganzer Körper fühlte sich wie ein Eisklotz an. Es war blanker Wahnsinn, so noch länger auszuharren. Zudem dämmerte es bereits und allein im Dunkeln zu sitzen, machte die Situation nicht besser. Ich musste hier raus. Ob klug oder unklug, hier im Auto zu warten war nicht vernünftiger.

Ich schlug den Weg ein, den der Mann und sein Hund gegangen waren. Unter den Bäumen waren ihre Fußabdrücke noch gut zu erkennen. Ich beeilte mich, trotz des tiefen Schnees schnell vorwärts zu kommen, denn der stille, einsame Wald war ziemlich unheimlich. Schon nach kurzer Zeit sah ich von Weitem einen warmen Lichtschein durch den dämmrigen Wald schimmern und ein schwacher aber herrlicher Duft von Essen stieg mir in die Nase. Jetzt konnte meinen zitternden Körper nichts mehr halten. Meine Schritte beschleunigten wie von selbst. Völlig außer Atem kam ich vor einem kleinen Blockhaus zum Stehen und stolperte die Stufen der Veranda hinauf. Ich holte noch einmal tief Luft und hämmerte dann mit meiner tauben Faust gegen die Tür. Nach einem kurzen Moment erschien eine ältere Dame, die mich freundlich anlächelte: „Sie sehen ja halb erfroren aus, mein Kind. Kommen Sie nur herein. Sie werden sehen, in ein paar Minuten ist diese Eiseskälte aus Ihren Knochen verschwunden und Sie werden sich wieder wie ein Mensch fühlen.“

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