Von Gerhard Schönbeck

Ein ruhiger Abend legte sich über das Land. Die Luft fühlte sich so eisig und klar an, dass man fast meinte, ein Stück davon abbrechen zu können. Wenigstens hatte der peitschende Schneesturm nachgelassen und die Wolken rissen auf. Schweigend stapfte die kleine Gruppe durch den Wald. Die Strapazen der vergangenen Wochen zeichneten sich deutlich auf den Gesichtern der Männer ab. Sie hatten eine epische Schlacht geschlagen, ein Platz in den Geschichtsbüchern war ihnen sicher. Das erfüllte sie mit Stolz und Genugtuung.

Weit konnte es nicht mehr sein bis nach Hause, und das war auch gut so. Die Arbeit war zumindest für den Moment getan, und die Kälte begann schon unter die Kleidung zu kriechen.

Auf einmal trat eine hochgewachsene Gestalt mit dichtem, eisverkrustetem weißem Bart aus dem Dickicht heraus. Sie war in einen Mantel gehüllt und trug eine Kapuze, die ihr tief ins Gesicht hing und ein Auge verdeckte. Die Erscheinung des Mannes war nicht im eigentlichen Sinne furchteinflößend, hatte aber doch etwas leicht gespenstisches an sich. Fast schien es, als wäre er von einer pulsierenden Aura umgeben – sicherlich eine optische Täuschung, wegen der Kälte. Der Anführer der Gruppe gebot seinen Männern mit einer Handbewegung, zu halten.

„Was willst du, Alter?“ wandte er sich an den Fremden.

„Ihr seht mir wie tüchtige, standfeste Krieger aus“, gab der Mann zurück. „Leute wie euch könnte ich gut gebrauchen.“

„Wofür brauchst du Krieger?“

„Details verrate ich euch auf dem Weg. Ich kann euch aber versichern, ihr werdet nicht enttäuscht sein. Es ist eine gigantische Sache, quasi Endkampf. Feuerriese, Fenriswolf und wer weiß was noch alles. Eigentlich müsstet ihr ja dafür in einer Schlacht gefallen sein, aber wir haben uns auf eine Ausnahmeregel verständigt. Quasi Timeout. Jede Partei darf noch einmal rekrutieren.“

„Was ist da vorne los?“, rief jemand aus der Gruppe.

„Irgendein Greis will was von uns!“, antwortete ein weiter vorn stehender Krieger.

„Ein Greis? Was für ein Greis?“

„Sind wir bald da?“, meldete sich ein anderer.

„Ich hab Hunger!“

„Mir ist kalt!“

Die Gruppendynamik drohte außer Kontrolle zu geraten.

„Jetzt haltet bitte die Klappe!“, verschaffte sich der Anführer entnervt Gehör. „Hör mal, Alterchen, uns steckt schon ein nicht unbeträchtliches Kampfgetümmel in den Knochen. Wir haben im Moment  nur ein Ziel: irgendwie nach Hause zu kommen und uns behaglich vor dem Kamin auszustrecken. Feuerriesen et cetera, sofern es so etwas überhaupt gibt, sind jetzt gerade kein wirklich zugkräftiger Ansporn.“

„Wirklich?“ Der Alte gab nicht auf. „Es gibt auch etwas zur Belohnung, holde Jungfrauen, die euch Met einschenken und solche Sachen.“

„So groß kann die Belohnung gar nicht sein, dass ich ein wärmendes Herdfeuer jetzt nicht allem anderen vorziehen würde.“

„Aber ihr seid doch Krieger! Wilde, harte, kampfeslustige Männer! Immer auf der Suche nach einer Gelegenheit, sich zu erproben! Schaut nur, wie der Feuerschein der Walstatt den Himmel blutrot färbt! Ist das nicht faszinierend? Reizt euch das gar nicht?“

„Das nennt sich Abendrot, alter Mann.“

„Geht’s bald mal weiter? Es wird hier grade nicht wärmer!“ In der Gruppe regte sich zunehmend Widerstand.

„Du siehst, die Bereitschaft meiner Männer ist im Moment enden wollend. Und jetzt lass uns bitte vorbei.“

„Na gut. Ich wollte es eigentlich nicht offenlegen, aber ich sehe, mir bleibt keine andere Möglichkeit. Ihr werdet es geahnt haben: ich bin Odin.“

„Du bist wer, bitte?“

„Odin. Der Göttervater. Der in Walhall thront und die Geschicke der Menschen lenkt.“

„Das hättest du wohl gerne.“

„Ihr glaubt mir nicht? Dann kommt mit und überzeugt euch selbst!“

„Netter Versuch. Tritt bitte zur Seite“, entgegnete der Anführer trocken und schob den Alten weg. „Vorwärts, Männer! Wir haben’s bald.“

„Sehr richtig! Vorwärts ist immer gut! Kann’s kaum erwarten!“, schnatterte die Gruppe freudig durcheinander und marschierte am Alten vorbei die wenigen verbliebenen Kilometer auf ihr Dorf zu. Mittlerweile war das letzte Licht des Tages verschwunden. Schweigend sah der Greis den Kriegern nach und blieb noch eine Weile in Gedanken versunken stehen. Nächstens würde er nicht mehr die Gestalt eines alten, gebrechlichen Mannes wählen, wenn er sich Kriegern zeigte. Schließlich drehte er sich um und ging langsam in die Richtung, aus der er gekommen war. Nach und nach schien es wieder heller zu werden, aber es war eine seltsam unnatürliche Helligkeit, die Luft schien fast zu glühen, obwohl es nach wie vor bitterlich fror. Nach einer Weile erreichte er einen offenen Platz, auf dem die anderen schon ungeduldig warteten. Der Fenriswolf bemerkte ihn als erster und kam ein paar Schritte auf ihn zu.

„Da sind seine göttliche Hoheit ja wieder, hat ja lange genug gedauert – wie ist es gelaufen?“

„Ach, frag nicht. Wir können weitermachen, wenn ihr wollt.“

„Okay, Timeout Ende. Dann mach dich auf was gefasst.“ Der Fenriswolf sperrte seinen Rachen auf.

„Ähm… Fenriswolf?“

„Bitte?“ Der Wolf wandte sich in die Richtung, aus der die schüchterne Stimme kam. „Feuerriese? Was ist los?“

„Wir anderen haben uns unterhalten“, erklärte der Feuerriese. „Es ist wirklich verdammt kalt, weißt du, und wir haben jetzt doch einige Zeit gewartet…“

„Komm zum Punkt.“

„Wir haben keine Lust mehr.“

„Was?“

„Wir wollen nach Hause und eine schöne Tasse heiße Schokolade.“

„Genau!“, meldete sich die Midgardschlange.

„Mit Marshmallows!“, ergänzte Thor.

„Marshmallows sind noch nicht erfunden“, gab der Feuerriese zu bedenken.

„Es ist auch wirklich verflucht kalt“, gestand der Fenriswolf ein. „Wer hatte auch die bescheuerte Idee, die Schlacht mitten im schneidendsten Winter stattfinden zu lassen?“

„Ist vom Mythos so vorgegeben“, stellte Odin fest.

„Pfeif auf den Mythos! Wir vertagen uns und treffen uns im Frühling wieder. Wäre das nicht viel netter, so mit einer sanften Brise und tschilpenden Vögeln?“

„Du meinst, wir schlachten uns neben tschilpenden Vögeln hin?“

Kurze Nachdenkpause.

„Ja.“

„Klingt gut. Wir hören uns.“

 

Der Abend war einer klaren und mondhellen Nacht gewichen, die Kälte schien sogar noch zugelegt zu haben. Die Abordnung der Krieger saß im Haus des Anführers und frönte einem Metgelage vor einem prasselnden Kaminfeuer.

„So lässt sich’s leben“, stellte der Anführer fest.

„Was meint ihr was mit dem Alten passiert ist?“, fragte einer der Krieger in die Runde.

„Was wird schon mit ihm passiert sein?“, gab ein anderer zurück, „der sitzt jetzt wahrscheinlich genau wie wir vor dem Kamin und giftet sich, dass er uns nicht hat verarschen können. Was für eine Geschichte – Feuerriesen, Fenriswolf, als ob es das wirklich gäbe!“

Heitere Zustimmung in der Runde. Die Unterhaltung wandte sich anderen Themen zu und wurde zunehmend ausgelassen.

„Ähm…“, ließ sich ein am Fenster sitzender Krieger plötzlich vernehmen, „seht mal nach draußen.“

Die Männer drehten den Kopf in die entsprechende Richtung und verstummten schlagartig. Mit einem Mal war es taghell geworden, die Luft draußen schien gleichsam rötlich zu flirren. Atemlos beobachteten die Männer, wie Feuerriese und Fenriswolf, augenscheinlich in ein anregendes Gespräch vertieft und flankiert von einer etwas hektisch wirkenden Midgardschlange, an der Spitze der infernalen Heerscharen gemächlich vorüberzogen.

„Ähm…“ Der Anführer rang um Fassung.

„Und jetzt?“, fragte ein neben ihm stehender Krieger.

„Jetzt“, entgegnete der Anführer, „trinken wir alle eine schöne, beruhigende Tasse heiße Schokolade. Aber ohne Schuss.“

 

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