Von Agnes Decker 

Es war kurz nach Weihnachten, in einer dieser Raunächte,  in denen sich die Grenzen zwischen den Welten verschieben und die Seelen spazieren gehen. Wie so oft erzählte mein Vater uns flüsternd von den Wesen der Anderswelt und den Menschen, die sie gesehen hatten und aus deren Umfeld kurz danach jemand sterben musste. Dann verriegelte er Türen und Fenster und stellte Kerzen vor das Muttergottesbild. Aber das alles schreckte mich nicht. Im Gegenteil, ich war jung und abenteuerlustig, und viel zu erleben gab es ohnehin nicht in unserem kleinen Dorf, zumal im Winter nicht, wenn wir oft längere Zeit von der Außenwelt abgeschnitten waren.

Leise öffnete ich die Haustüre. Eisige Kälte schlug mir entgegen, nahm mir den Atem und ließ meine Lunge schmerzen. Am liebsten wäre ich umgekehrt, hätte mich in meinem gut geheizten Zimmer verkrochen. Doch, ich hatte es versprochen, geschworen sogar. So zog ich den Schal vors Gesicht und setzte meine fellgefütterte Kapuze auf. Vorsichtig stieg ich die Stufen der vereisten Treppe hinunter. Betty, unsere Berner Sennenhündin, presste sich an meine Beine, als wolle sie mir Wärme geben. Aber, vielleicht wollte sie nur genauso wenig hinaus in diese Nacht wie ich.

Es schneite und schneite ununterbrochen. Der Schnee türmte sich meterhoch vor den Häusern, zu denen die Besitzer schmale Zufahrten geschaufelt hatten. Nur aus wenigen Fenstern drang ein mattes Licht oder ein blaues Flackern. Nicht mehr lange, dann würde das Dorf in Dunkelheit und Schlaf versinken. Aus den Kaminen quoll der Qualm und der vertraute Geruch nach verbrannter Holzkohle lag in der Luft. Behutsam setzte ich Fuß für Fuß auf die unberührte weiße Fläche. Dann schaute ich mich um, überzeugt davon, das Knirschen wäre bis in den letzten Winkel zu hören, ebenso wie mein klopfendes Herz. Doch alles blieb still. Niemand hatte mein Fortgehen bemerkt.

Fast am Ende des vereisten Weges angekommen, sah ich, dass Betty sich mit ihrem ganzen Körper in die verschneite Hecke drückte. Das war ungewöhnlich, liebte sie doch sonst nächtliche Ausflüge über alles, und sprang meist ausgelassen vor mir her. Ich blieb stehen und schob den Ärmel meines Mantels hoch. Das beleuchtete Ziffernblatt meiner Uhr zeigte eine halbe Stunde bis Mitternacht. Also schritt ich eilig voran. Der Rucksack auf meinem Rücken schlenkerte dabei hin und her, und mit ihm die Flasche mit Hochprozentigem, die ich heimlich mitgenommen hatte.

Trotzdem kam ich nur langsam vorwärts, da ich auf  Betty warten musste, die in immer kürzeren Abständen die Pfoten in den Schnee stemmte und nicht weiter wollte. Auch meine Abenteuerlust verflog zusehends. Die Füße waren trotz der warmen Socken und gefütterten Stiefel nass und kalt und auch der Wind drang durch sämtliche Kleidungsstücke. Um mich aufzumuntern, ließ ich die Hormone meinen Geist bestimmen, und gab mich dem hin, was mich schon seit Wochen erfüllte: Karine. Ich beschwor ihr Bild vor mir herauf, tanzend, schwebend im Wirbel des fallenden Schnees, ihr, von der Kälte gerötetes Gesicht dicht vor meinem, dann wieder entschwindend, mit einem hellen, lockenden Lachen. So, wie ich sie zuletzt gesehen hatte. Beim Eislaufen auf dem zugefrorenen Dorfteich. Karine.  

Mit den Gedanken an sie kämpfte ich mich langsam, aber etwas beschwingter den steilen Weg hinauf. Der Schneefall hatte zugenommen und der Wirbel der Flocken vor meinen Augen machte mich schwindlig. Dahinter war eine Schwärze, die weder von Mond noch Sternen erhellt wurde. Ich fühlte mich wie in einem Kokon, abgeschnitten von der Welt. Allmählich wurde mir die Gefahr meines Unternehmens bewusst. Ich konnte den Weg nicht mehr erkennen und auch das Dorf war im Strudel der Schneeflocken verschwunden, die der immer stärker werdende Wind mir ins Gesicht trieb.

Ich musste an Johann und Flo denken, meine besten Freunde, und hoffte und betete, dass sie die Hütte, in der wir drei uns treffen wollten, erreicht hatten und in Sicherheit waren. Gleichzeitig wurde mir klar, dass ich diese nicht mehr finden würde, zurück musste, bergab, heim ins Dorf, so schnell wie möglich. Die Welt um mich herum mit ihren gedämpften Geräuschen kam mir vor wie im Traum, machte mich schläfrig und gleichgültig. Ich hatte jede Orientierung und jegliches Zeitgefühl verloren, sah wieder und wieder Karine vor mir, spürte die Wärme ihres Lächelns. Wie es in ihren Mundwinkeln begann, in ihre Augen wanderte und schließlich ihr ganzes Gesicht erfasste.

Mittlerweile war aus dem Wind ein heulender Sturm geworden. Die Schneeflocken hatten sich in Eissplitter verwandelt und trafen wie Nadelstiche auf meine Haut. In der Ferne erklangen die Glockenschläge unserer Kirche und ich zählte mit. Zwölf, und mit dem letzten hörten Sturm und Schneefall auf,  und ich konnte, weit unter mir, die Lichter des Dorfes erkennen. Jetzt begann es zu donnern, als würde sich ein schweres Gewitter entladen. Betty drängte sich zwischen meine Beine und suchte Schutz, wo sie doch sonst eher mich beschützte. Ich blieb stehen und spürte, wie die Angst durch meinen Körper kroch. An meinen Vater und seine Geschichten musste ich denken und an Karine. Die Bilder flossen ineinander, verwoben sich, ich sah sie weit über mir dahinfliegen, die absurden Gestalten aus der Anderswelt, sah den Geisterzug der „Wilden Jagd“, so wie mein Vater ihn uns ausgemalt hatte. Voran auf seinem Schimmel der Anführer, in einen schwarzen Kapuzenmantel gehüllt, umgeben von Wölfen und weißen Hunden, dahinter die Verstorbenen in ihren Leichentüchern. Mit einem fürchterlichen Gerassel unter Schreien, Johlen, Heulen, Jammern, Ächzen und Stöhnen bewegten sie sich durch die Lüfte. Und mittendrin tanzte Karine, schwebte mit ihrem Lächeln auf mich zu, lockte mich, als wolle sie, dass ich ihr folge.

Ein Schmerz ließ mich aufschrecken. Betty hatte mich in die Wade gekniffen, als wüsste sie, wo ich gewesen war und wolle, dass ich zu ihr zurückkehre. Ich schüttelte mich, dass der Schnee wie eine Lawine von meiner Jacke rutschte. Gleichzeitig schüttelte ich die Angst von meiner Seele und die Lähmung aus meinen Knochen und begann den Abstieg. Betty lief jetzt so dicht vor mir, dass ich jede ihrer Bewegungen an meinen Beinen spürte. Wie ein Körper schmolzen wir zusammen, funktionierten wie eine Maschine.

Wir stiegen bergab, näherten uns Schritt für Schritt dem Dorf mit seinen wenigen Lichtern, den Menschen und der Wärme. Das Haus des Stachlerwirtes war hell erleuchtet. Ich rannte die Treppe hinauf und hämmerte trotz meiner schmerzenden Hände wie besessen an die Tür. Als sie sich endlich öffnete und Flos Mutter vor mir stand, konnte ich nur noch stammeln: „Flo und Johann. In der Hütte am Steilhang.“

„Alles ist gut Jakob, sie sind hier“, glaubte ich zu hören, sah noch das Lächeln der Frau. Dann spürte ich die Erschöpfung und, wie ich zusammensackte, man mich unter den Achseln packte und die Beine sich wie von selbst vorwärts bewegten. Als ich aufwachte, lag ich in meinem Bett. Das Zimmer war erfüllt von dem vertrauten, schummrigen Licht, das der Schnee auf dem Dachfenster erzeugt. Der Wecker zeigte schon die Mittagszeit, so dass ich schnell aufstand und mir nach einer Katzenwäsche Pullover und Hose überwarf. Aus der Küche hörte ich laute Stimmen und das Klappern von Geschirr. Doch als ich eintrat, wurde es still. Die ganze Familie war versammelt, die Eltern und meine beiden älteren Brüder sowie die Großeltern und die demente Tante. Meine Mutter, die am Herd gestanden hatte, drehte sich um und kam auf mich zu. Ihr ernstes Gesicht machte mir Angst. Sie zog mich zur Seite auf die Bank am Ofen, nahm mich in den Arm und strich mir über den Rücken, wie nur Mütter es können. Dann flüsterte sie mir ins Ohr, dass ein Unglück geschehen sei. Der Bürgermeister habe eben angerufen. Nein, nicht Flo und Johann, die wären wohlauf. Die Bergwacht hatte sie in der Hütte gefunden und nach Hause gebracht. Nein, die nicht. Karine und ihre Eltern. Sie würden vermisst. Über dem Skiort, in dem sie ihre Weihnachtsferien verbrachten,  sei eine Lawine heruntergegangen und man habe kaum noch Chancen, sie zu finden.

Ich hörte zu, hatte aber das Gefühl, dass es mich nicht betreffe, musste sogar grinsen, weil meine Mutter mich hielt  wie ein kleines Kind. Es schien endlos zu dauern, bis ihre Worte meine Seele erreichten.  Dann fühlte ich die unglaubliche Kälte und hörte Schreie. „Nein“, hell und schrill war die Stimme, die es immer und immer wieder schrie, bis sie abrupt aufhörte. Ich spürte die Hand meiner Mutter und, dass ich es war, der geschrien hatte, und der jetzt schluchzte: „Das habe ich nicht gewollt, Karine. Das habe ich nicht gewollt.“

*****

Der ältere Mann mit den scharf geschnittenen Gesichtszügen klappt mit einem lauten Geräusch das Buch zu, aus dem er vorgelesen hat, und legt es vor sich hin. Eine abwartende Stille erfüllt den Raum. Niemand hustet, raschelt oder scharrt mit den Füssen. Der Mann neigt ein wenig den Kopf und schaut über die Menschenmenge in den engen Stuhlreihen hinweg. Imposant sieht er aus mit seinem grauen Haar, das sich um seinen Schädel lockt und ihm auf die Schulter fällt, aber auch jung und verletztlich.

 „Jetzt“, sagt er und räuspert sich, „wohne ich in der Stadt, schon lange. Hier schmilzt der Schnee zu schmutzigem Matsch, es gibt keine Lawinen und keine Raunächte.  Aber, wenn ich an diese Geschichte denke, spüre ich die eisige Kälte, so als wäre es gestern gewesen. Heute weiß ich, dass es nur ein Aberglauben ist, dass es keinen kausalen Zusammenhang gibt, zwischen dem, was ich in der Nacht erlebt habe und dem, was Karine geschehen ist. Aber die Sehnsucht und die Schuld begleiten mich, haben mich vor sich hergetrieben mein ganzes Leben. Habe sie gebraucht, diese extremen Gefühle. Vielleicht sind sie der Preis für all das hier.“ Er hebt sein Buch hoch und steht auf. „Danke fürs Zuhören.“

 

Version 3