Von Hanne Laudan

Die Straße schlängelt sich in engen Kurven durch das Tal. Matti fährt ruhig und besonnen, konzentriert sich auf den Weg und die entgegenkommenden Autos, doch die Bilder lassen sich nicht vertreiben. Jeder Baum und jeder neue Blick ist Erinnerung, ist Glück und Schmerz. 

Auf dem Beifahrersitz schaut Lasco mit seinen schwarzen Knopfaugen neugierig nach vorn. Sein rot-braunes Fell erinnert Matti an Nele und ihre roten Strubbelhaare.  Lasco ist Neles Kuscheltier. Sie liebt Füchse. 

Nele liebt alle wilden Tiere, aber Füchse besonders.

Nele liebt Füchse. Matti schluckt. Er weiß, dass der Satz so nicht richtig ist. Aber er denkt ihn trotzdem. Immer wieder.

In der Fantasie sitzt er neben Nele. Der Tag hatte den Nachtregen aufgelöst und über dem dunklen Tal bildete sich ein weißer Wolkenteppich.  Mattis Arm lag über Neles Schulter und Nele hatte Lasco auf dem Schoß. Hinter ihnen stieg die Sonne über den Berg. Aus dem Wattemeer ragten vereinzelt wie Inseln die Gipfel der umliegenden Felsen.
 „Fuchs“ war Neles Spitzname.  Besser gesagt, einer der netten Spitznamen. Manche Jungs aus der Schule nannten sie eine Hexe. Auch Matti. Er dachte sich nichts dabei.

Heute hat er den Mut gefunden, Lasco zurück zu bringen. Er hat es lange vor sich hergeschoben und auch jetzt beeilt er sich nicht. Das Auto rollt gemächlich über das leere Band. Über die Straße zwischen ihrem und seinem Dorf. Zwanzig Minuten mit dem Fahrrad. Der Asphalt ist neu, doch die Bäume sind die alten. Der kleine Bach sprudelt noch immer in seinem Bett. An der kleinen Brücke haben sie manchmal gestanden und Steine ins Wasser geworfen. Oder Blumen, und dann haben sie gespannt deren Weg übers Wasser verfolgt. Das war immer, wenn Nele sich nicht zwischen Weiterfahren und weiter schauen entscheiden konnte. Dann galt das Blumenorakel. Blieb die Blume hängen, hieß das, sie würden noch eine Weile stehen bleiben.

Matti lenkt das Auto an den Rand der Straße, genau dahin, wo früher immer die Fahrräder und später sein Motorrad gestanden haben.

Er steht auf der Brücke und schaut den sprudelnden Wellen nach, sieht glatt geschliffene Steine und Gras, welches sich im Wasser wiegt. Lange steht er da und schaut und bewegt sich nicht.

Nele war eine Zauberin. Mit ihr war selbst der trübste Regentag voller bunter Schnipsel. War der Himmel schöner blau und das Grün lebendiger. Das war so seit dem Tag, an dem er herausfand, wie schön und besonders Nele ist. Als sein Blick sich schärfte. Danach waren ihm die Sprüche seiner Kumpels peinlich. Als er Nele später davon erzählt hat, lachte sie und meinte, da wäre er wohl erwachsen geworden.

Matti und Nele waren unzertrennlich. Das wussten alle, selbst die Lehrer. Matti hätte nie riskiert, den Platz neben Nele aufs Spiel zu setzen. Lieber verhielt er sich ruhig. Wenn er darüber nachdachte, fand er das verrückt. Und in Ordnung.

Er kann sich nicht erinnern, dass Nele jemals vor etwas Angst gehabt hat. Nicht vor den Jungs, nicht vor Prüfungen. Nele fand, Angst ist dumm und verhindert Spaß. Das Leben geht schließlich immer weiter, irgendwie. Wenn es nicht mehr weitergeht, ist es einem selbst egal.
Für Nele jedenfalls war das Leben einfach, es gab immer einen Weg. Manchmal war der Weg länger und ab und zu musste man eine Pause einlegen. Oder auch, wenn der Rückweg zu weit war, im Wald übernachten. Mit zwei gesunden Händen und ein paar Streichhölzern ließ sich ein Feuer anzünden und die Nacht war warm. Sie schliefen aneinander und in ihre Jacken gekuschelt. Lasco war dabei. Sie hatten ihn am Morgen in einem Souvenirstand gefunden und Matti hatte ihn für Nele gekauft.
„Er sieht aus wie du“, sagte er und Nele hatte gelacht.
Mit Nele war auch Matti unverwundbar.

Sie dachten nicht an später. Also Matti auf keinen Fall und Nele hat nie das Gespräch darauf gebracht. Sie hatten keinen Plan fürs Leben. Sie hatten sich, das war der Garant für Glück. So einfach war das.
Mit Nele war alles möglich.
Jetzt ist er auf dem Weg zu Nele. Das erste Mal seit 8 Jahren. Nach einem Sommer, der unvergessen sein sollte. Der unvergessen war. Für Matti jedenfalls.

Matti parkt das Auto am Ortseingang. Die letzten Meter will er zu Fuß gehen, es ist nicht mehr weit.
Von dieser Seite des Ortes aus kann er Nele besuchen, ohne dass ihm alte Bekannte über den Weg laufen. Auch Neles Eltern werden nicht da sein. Matti will niemanden treffen, nur Nele.

Lasco trägt er im Arm und streicht ihm zärtlich durchs Fell. Oft genug war der kleine Fuchs sein Begleiter in schlaflosen Nächten.

Das schwere Tor bewegt sich quietschend in den Angeln.
Matti geht den schattigen Weg entlang. Sein Herz schlägt wie verrückt. 


Am letzten Tag des Sommers, bevor sie beide für einige Wochen getrennt sein würden, hat er Nele nach Hause gebracht. Am nächsten Morgen würde sie mit dem Zug nach Berlin fahren und Matti nach Dresden. Sie waren sich sicher, dass die Liebe hält.
Er ist am Ende des Weges, dort, wo Erinnerung und Sehnsucht in Schmerz münden. Als das Motorrad an der Stelle, wo die Straße eine kleine Schanze bildet, die Bodenhaftung verlor und Matti die Kontrolle über die Maschine. Danach ist Dunkel.

Auf dem Stein stehen Neles Name und Zahlen.  Er streicht mit den Fingern über die eingravierten Buchstaben. Dann setzt er den kleinen Fuchs auf die steinerne Umrandung des Grabes, an den Stein gelehnt. Direkt neben Neles Namen.

 

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