Von Timo Oberleitner

Ins Badezimmer zu gehen ist beinahe wie Folter. Ich bin mir gewahr, dass ich mich jedes Mal nur selbst marterte, wenn ich durch die Türe trete. Nicht selten verzichte ich darauf, meine Angelegenheit im Bad zu klären, weil ich weiß, dass ich dem Wahnsinn darin im Moment nicht standhalten könne.

Betritt man das Badezimmer jedoch als Fremdling, so würde einem bis auf die ominöse Aura nichts Ungewöhnliches auffallen. Wenngleich sich sogar diese bedrohlich über einen legte und jeden seiner Besucher umgibt wie eine dunkle, bedrückende Hülle.

Als ob das Bad nicht so schon beengend genug wäre. Denn es ist klein, bestimmt nicht größer als 3 Quadratmeter. Der Boden, der mannigfaltig mit bunten Fliesen geschmückt ist, stimuliert mit seiner Kälte die Nerven meiner nackten Fußsohlen, wenn ich darüber gehe.

Die Wände sind alle einheitlich blau gefliest. Sie bröckeln an einigen Stellen bereits ab, doch ausgetauscht hat sie bis zu diesem Tag noch niemand. Als wir hier eingezogen sind, fanden wir das alles bereits so vor.

Zumal die Toilette und das Bad nur durch eine Wand getrennt werden, die dort, wo normalerweise eine Tür sein sollte, einfach nur eine Öffnung hat, kommt es mir so vor, als könne ich sogar während ich mein Geschäft verrichte die Anwesenheit eines scheinbar transzendenten Mediums fühlen. Ohne dass man es sieht, riecht, schmeckt, hört oder im herkömmlichen Sinn fühlt. Man weiß einfach, dass es da ist und mit seinem wärmeausstrahlenden Leuchten dazu verleitet, dass du es reinlässt.

Seit ich selbst auf die Toilette gehen konnte, haste ich, nachdem ich im Bad fertig bin, heraus, wenngleich ich weiß, dass ich ihm keinen Blick gewürdigt hatte.

Aber wenn die Verlockung zu groß ist, wenn ich mich unfreiwillig auf das tonlose Flüstern einlassen muss und doch hinsehe, bleibt mir jedes Mal der Atem weg. Häufig gerat ich vor lauter Sehnsucht ins Taumeln, und ich musste mich wo festhalten. Der Türstock ohne Tür, der das WC und das Badezimmer verband, war zumeist die erstbeste Gelegenheit dafür. Fest klammere ich mich daran, bis meine Knöchel weiß hervortreten. Dann konzentriere ich mich auf etwas anderes, versuche, aus dem trügerischen Geborgenheitsgefühl zu entkommen. Oft funktioniert dies und ich bin schwitzend aus dem Bad geflüchtet, aus Angst davor, dem Gefühl gegenüber schwach zu werden und mehr Zeit in der schimärischen Atmosphäre zu verbringen.

Doch diesmal hätte ich einen Willen, wie ihn kein mir bekanntes physisches Wesen besitzt, gebraucht, um dem wohltuenden Gefühl, das man eigentlich nicht loswerden will, zu entkommen. Obwohl ich wusste, dass es mir mehr schadet als guttut, musste ich mich darauf einlassen.

Es war wie ein Tanz. Ein Tanz, der von einem scheinbar undefinierbaren Medium geführt wurde. Es schmeichelte mir. Verführte mich. Obwohl es körperlos ist, wusste ich, dass es mich umarmte. Dass es mich mit seinen sanften, warmen Berührungen erotisierte. Es roch und schmeckte behaglich warm.

In diesem ekstatischen Gefühl schwebend begann ich zu lächeln. Ich dachte, dass es, wäre es in der Lage sich zu materialisieren, auch lächeln müsste.

„Nein!“, flüsterte ich mir selbst zu, immer noch lächelnd, „Bitte nicht!“

Doch ich hörte die Sehnsucht in meiner Stimme. Ganz klar. Resigniert bemerkte ich, dass ich verführt werden wollte. Ich schämte mich in Grund und Boden.

Schließlich verschwamm die reale Welt um mich. Sie schien merkwürdig verronnen wie ein mit Wasserfarben angefertigtes Gemälde.

Ich taumelte. Stütze mich gegen die Wand. Eine der kaputten Fliesen riss mir eine Wunde in einen meiner Finger. Es schmerzte jedoch nicht. Von meinem derzeitigen Zustand wie berauscht nahm ich es lediglich als ein dezentes Pieken war. Ein Tropfen Blut tropfte auf den Boden.

Ich kniff euphorisch meine Augen zusammen. Angestrengt bündelte ich meine letzte Motivation, mich aus dem schier hyperphysischen Reiz loszureißen.

Ich versuchte mich selbst zu zwingen, wegzuschauen. Aber es war überall, genoss eine omnipräsente Anwesenheit.

Schließlich gab meinem Herzen einen Stoß und überwand mich, woanders hinzusehen; nämlich in den kaputten, an der Wand über dem Waschbecken festgemachten Spiegel.

Doch selbst darin spiegelte es sich mit all seiner hässlichen Schönheit: das Milchglasfenster. Ich schauderte und mein letzter, nur noch als kleine Flamme vorhandener Widerstandswille wurde ausgepustet wie eine Kerze.

 

Man konnte nicht hindurchsehen; nur unscharfe Farbflecke ließen mich erkennen, was auf der anderen Seite des Milchglasfensters vor sich ging.

Des Öfteren schlug der Wind die Zweige der Eiche draußen gegen die heruntergekommene Hausmauer. Neben dem kratzenden Geräusch, das die unbehagliche Atmosphäre des Raumes nicht gerade aufhob, nahm man dies durch die grünen, wedelnden Flecken wahr, die jenseits von der mehr oder weniger behaglichen Wärme im Inneren des Hauses herumtanzten.

Für mich jedoch war das Milchglasfenster ein mit Sehnsucht verknüpftes Artefakt. Es schien zu leuchten. Seine imaginieren Arme streckte es einladend nach mir aus. Sie lockten mit ihrer Wärme und ihrem Licht.

Das Fenster verjagte die unser Haus dominierenden Schatten. Mich jedoch zog es wie magisch an.

Meine Mutter hatte dies immer geleugnet. Aber ich hatte ihr pathetisches Lächeln durchschaut. Sie war von der Sehnsucht mindestens genauso ergriffen wie ich. Dennoch hatte ich zurückgelächelt; sie nahm all das nur zu meinem Schutz hin und versuchte mich trotz dieser schwierigen Situation bestmöglich aufzuheitern und zu beschützen.

 

Der Gedanke an meine fürsorgliche Mutter riss mich aus meiner Ektase. Von einer Sekunde auf die andere konnte ich wieder klar denken. Ich peinigte mein mentales Ego dafür, das vom Fenster ausgehende Gefühl zu vermissen, obwohl ich mir fest einredete, dass ich es abgrundtief hassen sollte. Dennoch streckte ich meine Hand danach aus und stellte perplex fest, wie ambivalent meine Bedürfnisse waren.

 

Ich beobachtete die Welt da draußen durch das Fenster.

Sonnenstrahlen wärmten das Milchglas. Sehnsüchtig presste ich meine linke Hand dagegen, was einen kleinen Blutfleck auf dem beinahe undurchsichtigen Glas hinterlassen wird. Meine Rechte schloss ich um den weißen Griff des Fensters. Wie einfach es wäre, ihn zu drehen, das Fenster aufzureißen und herauszusteigen, um dem monotonen Leben hier drin zu entkommen. Meine Hand schloss sich fester um den Griff, sodass meine Knöchel weiß hervortraten.

„Was machst du da?!“, rief meine Mutter besorgt und zugleich zornig. Beschämt wandte ich meinen Blick vom Fenster ab. Ich hatte sie nicht hereinkommen gehört.

„Du weißt doch, dass wir nicht raus dürfen!“

Das ist nicht das erste Mal, dass sie mir solch eine Moralpredigt vorträgt.

„Ich weiß, Mama, aber-“

„Gerade gibt es kein aber, du musst hier drinbleiben, zu deinem und meinem Wohle!“

Auch das wusste ich bereits, aber diesmal hielt ich meinen Mund.

Ich schaute abermals sehnsüchtig zum Fenster.

Meine Mutter bemerkte meinen Blick. Sie nahm meine Hand in die ihre. Angenehm beruhigend streichelte sie mit ihrem Daumen über meinen Handrücken. Indessen presste ich meinen Kopf an ihren Arm, so wie ich zuvor meine Hand an die von den Sonnenstrahlen gewärmte Milchglasscheibe gedrückt hatte. Zusammen gingen wir in das Wohnzimmer. Es roch ein bisschen modrig.

Die Balkontüre, die dafür zuständig sein könnte, unserem Haus zumindest etwas Helligkeit zu verpassen, ist mit Kartons zugeklebt. Statt die warmen Sonnenstrahlen durchzulassen, erstickten diese an dem Versuch hindurch zu scheinen.

Wir nahmen neben dem Kasten Platz, der ein weiteres Fenster verstellte. Die einzigen Lichtquellen waren die Ritzen zwischen den Kartons sowie einige Kerzen, was dazu führte, dass wir im Halbdunkel saßen. Meine Mutter sah mich ernst an. Ich nahm an, dass sie eine Entschuldigung erwartete.

„Ich weiß, ich soll nicht raus, Mama, ehrlich!“, sage ich reuig, „Und ich weiß, dass es uns in Schwierigkeiten bringen kann, das habe ich nicht gewollt!“

Meine Mutter sah mich schier teilnamelos an und lächelte einfach. Trotzdem sah sie ein wenig enttäuscht aus. Das machte auch mich traurig. Eine Träne rannte an meiner Wange herab und tropfte auf meinen blutigen Finger.

„Schon okay“, sagte meine Mutter nach einer Weile.

„Es tut mir echt leid.“

„Ist okay, hab´ ich gesagt“ Mamas Lächeln kulminierte. „Wir beide werden das durchstehen, gemeinsam.“

Der Ausdruck der Enttäuschung und Trauer wich. Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn, was auch mich wieder zum Lächeln brachte. Ich kuschelte mich an ihren wohlig warmen Körper und genoss das Gefühl der genuinen Geborgenheit, welches mir die Anwesenheit meiner Mutter bescherte.

Sie tätschelte meinen Kopf, womöglich mehr ihrer eigenen als meiner Beruhigung halber.

Wenn es da draußen auch nur halb so schlimm ist, wie sie sagt, dann ist es vermutlich wirklich besser drin zu bleiben. Und vielleicht ist mir das sogar sowieso lieber.

 

Version 1.0

Ins Badezimmer zu gehen ist beinahe wie Folter. Ich bin mir gewahr, dass ich mich jedes Mal nur selbst marterte, wenn ich durch die Türe trete. Nicht selten verzichte ich darauf, meine Angelegenheit im Bad zu klären, weil ich weiß, dass ich dem Wahnsinn darin im Moment nicht standhalten könnte.

Betritt man das Badezimmer jedoch als Fremdling, so würde einem bis auf die ominöse Aura nichts Ungewöhnliches auffallen. Wenngleich sich sogar diese bedrohlich über einen legt und jeden seiner Besucher umgibt wie eine dunkle, bedrückende Hülle.

Als ob das Bad nicht so schon beengend genug wäre. Denn es ist klein, bestimmt nicht größer als 3 Quadratmeter. Der Boden, der mannigfaltig mit bunten Fliesen geschmückt ist, stimuliert mit seiner Kälte die Nerven meiner nackten Fußsohlen, wenn ich darüber gehe.

Die Wände sind alle einheitlich blau gefliest. Sie bröckeln an einigen Stellen bereits ab, doch ausgetauscht hat sie bis zu diesem Tag noch niemand. Soweit ich mich zurückerinnern kann, war all dies schon so gewesen, wie es nun ist.

Zumal die Toilette und das Bad nur durch eine Wand getrennt werden, die dort, wo normalerweise eine Tür sein sollte, einfach nur eine Öffnung hat, kommt es mir so vor, als könne ich sogar während ich mein Geschäft verrichte die Anwesenheit eines undefinierbaren Mediums fühlen. Ohne dass man es sieht, riecht, schmeckt, hört oder im herkömmlichen Sinn fühlt. Man weiß einfach, dass es da ist und mit seinem wärmeausstrahlenden Leuchten dazu verleitet, dass du es reinlässt.

Seit ich selbst auf die Toilette gehen kann, haste ich, nachdem ich im Bad fertig bin, heraus, wenngleich ich weiß, dass ich ihm keines Blickes gewürdigt habe.

Aber wenn die Verlockung zu groß ist, wenn ich mich unfreiwillig auf das tonlose Flüstern einlassen muss und doch hinsehe, bleibt mir jedes Mal der Atem weg. Häufig gerate ich vor lauter Sehnsucht ins Taumeln, und ich muss mich wo festhalten. Der Türstock ohne Tür, der das WC und das Badezimmer verbindet, ist zumeist die erstbeste Gelegenheit dafür. Fest klammere ich mich daran, bis meine Knöchel weiß hervortreten. Dann konzentriere ich mich auf etwas anderes, versuche, aus dem trügerischen Geborgenheitsgefühl zu entkommen. Oft funktioniert dies und ich flüchte schwitzend aus dem Bad, aus Angst davor, dem Gefühl gegenüber schwach zu werden und mehr Zeit in der schimärischen Atmosphäre zu verbringen.

Doch diesmal hätte ich einen Willen, wie ihn kein mir bekanntes physisches Wesen besitzt, gebraucht, um dem wohltuenden Gefühl, das man eigentlich nicht loswerden will, zu entkommen. Obwohl ich wusste, dass es mir mehr schadet als guttut, musste ich mich darauf einlassen.

Es war wie ein Tanz. Ein Tanz, der von einem scheinbar undefinierbaren Medium geführt wurde. Es schmeichelte mir. Verführte mich. Obwohl es körperlos ist, wusste ich, dass es mich umarmte. Dass es mich mit seinen sanften, warmen Berührungen erotisierte. Es roch und schmeckte behaglich warm.

In diesem ekstatischen Gefühl schwebend begann ich zu lächeln. Ich dachte, dass es, wäre es in der Lage sich zu materialisieren, auch lächeln müsste.

„Nein!“, flüsterte ich mir selbst zu, immer noch lächelnd, „Bitte nicht!“

Doch ich hörte die Sehnsucht in meiner Stimme. Ganz klar. Resigniert bemerkte ich, dass ich verführt werden wollte. Ich schämte mich in Grund und Boden.

Schließlich verschwamm die reale Welt um mich. Sie schien merkwürdig verronnen wie ein mit Wasserfarben angefertigtes Gemälde.

Ich taumelte. Stütze mich gegen die Wand. Eine der kaputten Fliesen riss mir eine Wunde in einen meiner Finger. Es schmerzte jedoch nicht. Von meinem derzeitigen Zustand wie berauscht nahm ich es lediglich als ein dezentes Pieken war. Ein Tropfen Blut perlte von meinem Finger zu Boden.

Ich kniff euphorisch meine Augen zusammen. Angestrengt bündelte ich meine letzte Motivation, mich aus dem schier übernatürlichen Reiz loszureißen.

Das tat ich, indem ich versuchte mich selbst zu zwingen wegzusehen. Aber es war überall, genoss eine omnipräsente Anwesenheit.

Schließlich gab ich meinem Herzen einen Stoß und überwand mich, woanders hinzusehen; nämlich in den kaputten, an der Wand über dem Waschbecken festgemachten Spiegel.

Doch selbst darin spiegelte es sich mit all seiner hässlichen Schönheit: das Milchglasfenster. Ich schauderte und mein letzter, nur noch als schwaches Flackern vorhandener Widerstandswille wurde ausgepustet wie eine Kerze.

 

Man konnte nicht hindurchsehen; nur unscharfe Farbflecke ließen mich erkennen, was auf der anderen Seite des Milchglasfensters vor sich ging.

Des Öfteren schlug der Wind die Zweige der Eiche draußen gegen die heruntergekommene Hausmauer. Neben dem kratzenden Geräusch, das die unbehagliche Atmosphäre des Raumes nicht gerade aufhob, nahm man dies durch die grünen, wedelnden Flecken wahr, die jenseits von der mehr oder weniger behaglichen Wärme im Inneren des Hauses herumtanzten.

Für mich hingegen war das Milchglasfenster ein mit Sehnsucht verknüpftes Artefakt. Es schien zu leuchten. Seine imaginieren Arme streckte es einladend nach mir aus. Sie lockten mit ihrer Wärme und ihrem Licht.

Das Fenster verjagte die unser Haus dominierenden Schatten. Mich jedoch zog es wie magisch an.

Meine Mutter hatte dies immer abgestritten. Aber ich hatte ihr fürsorgliches, leugnendes Lächeln durchschaut. Sie war von der Sehnsucht mindestens genauso ergriffen wie ich. Dennoch hatte ich zurückgelächelt; sie nahm all das nur zu meinem Schutz hin und versuchte mich trotz dieser schwierigen Situation bestmöglich aufzuheitern und zu beschützen.

 

Der Gedanke an meine fürsorgliche Mutter riss mich aus meiner Ektase. Von einer Sekunde auf die andere konnte ich wieder klar denken. Ich peinigte mein mentales Ego dafür, das vom Fenster ausgehende Gefühl zu vermissen, obwohl ich mir fest einredete, dass ich es abgrundtief hassen sollte. Dennoch streckte ich meine Hand danach aus und stellte perplex fest, wie ambivalent meine Bedürfnisse waren.

 

Ich beobachtete die Welt da draußen durch das Fenster. Je älter ich werde, desto mehr verschwimmt die Erinnerung an die wunderbar schöne Welt da draußen.

Sonnenstrahlen wärmten das Milchglas. Sehnsüchtig presste ich meine linke Hand dagegen, was einen kleinen Blutfleck auf dem beinahe undurchsichtigen Glas hinterlassen wird. Meine Rechte schloss ich um den weißen Griff des Fensters. Wie einfach es wäre, ihn zu drehen, das Fenster aufzureißen und herauszusteigen, um dem monotonen Leben hier drin zu entkommen. Meine Hand schloss sich fester um den Griff, sodass meine Knöchel weiß hervortraten.

„Was machst du da?!“, rief meine Mutter besorgt und zugleich zornig. Beschämt wandte ich meinen Blick vom Fenster ab. Ich hatte sie nicht hereinkommen gehört, jetzt aber ließ sie die wenigen Lebensmittel in ihren Händen mit einem Platschen zu Boden fallen. Jemand legt sie immer vor unsere Türe. Vor unsere demolierte Türe, die für mich Tabu ist.

„Du weißt doch, dass wir nicht raus dürfen!“, fuhr meine Mutter fort.

Das ist nicht das erste Mal, dass sie mir solch eine Moralpredigt vorträgt.

„Ich weiß, Mama, aber-“

„Gerade gibt es kein aber, du musst hier drinbleiben, zu deinem und meinem Wohle!“

Auch das wusste ich bereits, aber diesmal hielt ich meinen Mund.

Ich schaute abermals sehnsüchtig zum Fenster.

Meine Mutter bemerkte meinen Blick. Sie nahm meine Hand in die ihre. Angenehm beruhigend streichelte sie mit ihrem Daumen über meinen Handrücken. Indessen presste ich meinen Kopf an ihren Arm, so wie ich zuvor meine Hand an die von den Sonnenstrahlen gewärmte Milchglasscheibe gedrückt hatte.

Wir spazierten einfach über die kostbaren Lebensmittel, die sie vorhin fallengelassen hat, obwohl wir beide Hunger hatten, und gingen zusammen in das Wohnzimmer. Es roch ein bisschen modrig.

Die Balkontüre, die dafür zuständig sein könnte, unserem Haus zumindest etwas Helligkeit zu verpassen, ist mit Kartons zugeklebt. Statt die warmen Sonnenstrahlen durchzulassen, erstickten diese an dem Versuch hindurch zu scheinen.

Wir nahmen neben dem Kasten Platz, der ein weiteres Fenster verstellte. Die einzigen Lichtquellen waren die Ritzen zwischen den Kartons sowie einige Kerzen, was dazu führte, dass wir im Halbdunkel saßen. Meine Mutter sah mich ernst an. Ich nahm an, dass sie eine Entschuldigung erwartete.

„Ich weiß, ich soll nicht raus, Mama, ehrlich!“, sage ich reuig, „Und ich weiß, dass es uns in Schwierigkeiten bringen kann, das habe ich nicht gewollt!“

Meine Mutter sah mich schier teilnamelos an und lächelte einfach. Trotzdem sah sie ein wenig enttäuscht aus. Das machte auch mich traurig. Eine Träne rannte an meiner Wange herab und tropfte auf meinen blutigen Finger.

„Schon okay“, sagte meine Mutter nach einer Weile.

„Es tut mir echt leid.“

„Ist okay, hab´ ich gesagt“ Mamas Lächeln kulminierte. „Wir beide werden das durchstehen, gemeinsam.“

Der Ausdruck der Enttäuschung und Trauer wich. Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn, was auch mich wieder zum Lächeln brachte. Ich kuschelte mich an ihren wohlig warmen Körper und genoss das Gefühl der Geborgenheit, welches mir die Anwesenheit meiner Mutter bescherte.

Sie tätschelte meinen Kopf, womöglich mehr ihrer eigenen als meiner Beruhigung halber.

Wenn es da draußen auch nur halb so schlimm ist, wie sie sagt, dann ist es vermutlich wirklich besser drin zu bleiben. Und vielleicht ist mir das sogar sowieso lieber.

 

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