Von Michael Voß

Langsam zieht Harry die Spirale aus dem 40er Wandanschluss. Ein Übelkeit erregender Gestank macht sich in dem engen Raum unter der Spüle breit. Harry hält den Atem an, rollt die Spirale zusammen und montiert die Abflussgarnitur wieder an ihren Platz. Er kriecht aus der stinkenden Höhle hervor und reckt sich. Während das Spülbecken voll Wasser läuft, öffnet er das Küchenfenster und saugt die frische Herbstluft bis in die Lungenspitzen. Ahhh, herrlich!

Dann zieht er den Stöpsel und beobachtet das rasch abfließende Wasser. Mit der Taschenlampe leuchtet er noch einmal unter die Spüle – alles trocken. Sehr gut.

Zufrieden öffnet Harry die Küchentür.

„Frau Ziegler? Ihr Abfluss ist wieder in Ordnung.“

Eine tatterige Frau in den Siebzigern pantoffelt unsicher heran.

„Ach, Herr Kaminski, das ist ja wunderbar. Möchten Sie noch einen Kaffee?“

Omma-Kaffee ist nichts für Harry – homöopathische Mittel bezieht er lieber aus der Apotheke. Und selbst wenn Frau Ziegler zwei gehäufte Löffel original Jacobs Dröhnung pro Tasse aufbrühen würde – Harry versteht nicht, wie man einen aromalosen Filterkaffee durch den Hals kriegt.

„Herzlichen Dank, aber …“

„Vielleicht einen Espresso?“

Is nich wahr: Die alte Dame stellt einen sechseckigen, italienischen Espressokocher auf den Gasherd und füllt schwarze Bohnen in eine Handmühle!

„Sehr gern!“

Etwas später schließt Harry verzückt die Augen – der Espresso ist fantastisch.

„Herr Kaminski?“

„Ja, Frau Ziegler?“

„Würden Sie noch eine kleine Reparatur übernehmen? Der Durchlauferhitzer ist kaputt.“

„Äh, wissen Sie, ich bin Abflussmann, kein gelernter Klempner. Warum rufen Sie nicht bei Schurichs an? Die sind um die Ecke.“

„Ja, früher, da wäre der alte Schurich noch selbst gekommen und hätte das mal eben gemacht. Sein geschäftstüchtiger Sohn aber vertröstet mich seit Wochen. Inzwischen habe ich bei Siemens ein neues Gerät bestellt. Leider kann ich das nicht selber anschrauben. Aber Sie, Herr Kaminski, Sie sind doch mit Wasserleitungen vertraut!“

Der Espresso ist Spitze, der bittende Blick der alten Frau herzerweichend.

„Na gut.“

Das Strahlen der klapperigen Rentnerin ist unbezahlbar.

Erneut geht Harry vor dem Spülenunterschrank auf die Knie. Wie erwartet sitzen die Eckhähne fest. Mit viel Geduld und dosiert eingesetzter Handkraft kriegt Harry zumindest das warme Wasser abgedreht. Beim Kaltwasser geht nichts. Er öffnet den Werkzeugkasten. Mit dem Engländer hält er den Hahn fest, um dann mit der Wasserpumpenzange das Handrad zu lockern.

Bloß nicht abreißen, denkt er und ruckelt vorsichtig immer links – rechts – links – rechts. Endlich lässt sich die Spindel etwas drehen, doch bevor Harry sich darüber freuen kann, hängt sie schon wieder fest.

Nur noch ein bisschen, denkt er. Mit geschlossenen Augen spürt er in die kleinen Bewegungen hinein – bewegt es sich nur oder verformt es sich bereits?

„Möchten Sie noch einen Espre …“

Versehentlich stupst Frau Ziegler mit ihrem Pantoffel an sein Bein. Harry zuckt reflexartig zurück. Um sich nicht den Kopf anzuhauen, hält er sich an den Zangen in seinen Händen fest. Merkwürdig weich biegt der Eckhahn weg und bricht dann plötzlich aus der Wand. Harry rutscht ab, schlägt mit dem Schädel an, verstaucht sich die Rechte. Das aus der Wand schießende Wasser durchnässt ihn binnen Sekunden, Blut fließt warm aus der geplatzten Augenbraue.

„Mist!“

Ächzend kriecht Harry unter der Spüle hervor.

Frau Ziegler steht der Schrecken im Gesicht: „Das habe ich nicht gewollt!“

„Wo ist der Haupthahn?“

„Das habe ich nicht gewollt!“, stottert die alte Dame.

„Frau Ziegler, ihre Küche wird überflutet. Jetzt! Wo bitte ist der Haupthahn in diesem Haus?“

„Das habe ich nicht gewollt!“

Schockzustand, diagnostiziert Harry.

Er eilt in den Flur. Wie in den meisten Häusern findet Harry die Tür zur Kellertreppe in der Nähe der Haustür. Er macht auf, tastet nach dem Lichtschalter. Eine trübe Funzel verbreitet schummeriges Licht. Harry stürmt los. Den auf der fünften Stufe abgestellten Wischeimer sieht er im Halbdunkel nicht und tritt hinein.

„Scheiße!“

Die Hände finden keinen Halt, der andere Fuß ist nicht schnell genug. Harry segelt die Treppe runter, landet unsanft auf dem Estrich, knallt mit dem Kopf gegen eine Türzarge. Dann wird es dunkel um ihn.

 

Nato-Übung. Panzergrenadier Harry Kaminski liegt in einem Zweimannzelt irgendwo in der norddeutschen Pampa. Es ist Spätherbst, es ist arschkalt und es regnet.

Plitsch.

Plitsch.

Verflucht, haben Kamerad Kurt und er die Zeltplanen nicht ordentlich aneinander geknöpft? Er schlägt die Augen auf.

Es ist keine Übung. Er liegt bei Frau Ziegler im Keller. Wieso ist er nass? Ach ja, der Wasserschaden. Sein Blick tastet über die Kellerdecke. Sie ist ein wenig nach unten ausgebeult, von der tiefsten Stelle tropft es in sein Gesicht.

Klar: 30er-Jahre-Haus, Balkendecke mit Schilf und Lehmfüllung, denkt er.

Das Wasser aus der Küche ist durch die Bodendielen in die Decke gelaufen und durchnässt  nun die Füllung. Ein Stück Putz löst sich und klatscht auf Harrys Bauch. Jetzt ist er hellwach. Hektisch wälzt er sich aus der Gefahrenzone und sucht Zuflucht unter einem Türsturz. Keinen Augenblick zu früh. Mit Getöse rauscht die tonnenschwere Deckenfüllung auf den Kellerboden und bildet einen beachtlichen Schutthaufen. Würde Harry noch da liegen, hätte ihn das klatschnasse Geröll gnadenlos festgehalten und erstickt.

Schwein gehabt, aber so was von!, denkt er, hievt sich auf die Füße und fängt an, den Haupthahn zu suchen.

Da isser und tut keinen Mucks, denkt Harry, als er den Hahn endlich findet: In einem Regal, zwischen lauter Einmachgläsern. Erleichtert sperrt er die Wasserzufuhr ab.

Erschöpft, durchnässt und frierend macht er sich auf den Weg nach oben. Frau Ziegler läuft in der Küche hin und her.

Sie stammelt immer noch: „Das habe ich nicht gewollt.“

Harry wählt 112.

 

Drei Monate später ist er bei Frau Ziegler auf einen Espresso eingeladen. Der Wasserschaden ist inzwischen fachmännisch repariert, die blitzblanke Küche mit ihrem neuen Dielenboden strahlt mit Frau Ziegler um die Wette. Überhaupt, Frau Ziegler: Ihre Stimme klingt viel frischer, ihre Augen leuchten und sie wirkt nicht mehr so tatterig.

„Ach, Herr Kaminski, was bin ich froh, dass Ihnen damals nichts Ernstes passiert ist! Ich war ja so …“

„Durch den Tüddel?“

„Ja. Meine Heilpraktikerin meinte, dass wäre typisch für Leute mit einer chronischen Bleivergiftung. Dank der naturheilkundlichen Entgiftung fühle ich mich inzwischen viel besser; bestimmt zehn Jahre jünger! Ich bin so dankbar: Nur durch das Missgeschick ist herausgekommen, dass in diesem Haus noch Bleirohre liegen und ich mich mit jedem Schluck Wasser langsam immer weiter vergiftet habe.“

Sie stellt zwei schlanke Gläser und eine Flasche Sekt auf den Tisch.

„Bevor ich uns den Espresso mache, möchte ich mit Ihnen anstoßen. Auf Ihre und auf meine Gesundheit!“

Zwar mag Harry Sekt so überhaupt nicht, doch Frau Ziegler zuliebe öffnet er die Flasche.

Mit einem Knall schießt der Korken aus der Flasche und zerschlägt die Glühbirne in der geblümten Hängelampe.

„Hoppla!“, kichert Frau Ziegler in die Dunkelheit.

„Tschuldigung, das hab ich nicht gewollt!“, murmelt Harry.

Ein Streichholz flammt auf. Frau Ziegler stellt zwei Kerzen auf den Tisch.

„Ach, das ist doch ganz hervorragend!“, sagt sie zufrieden. „Jetzt kann ich bei meinem Kaffeekränzchen erzählen, dass ich ein Candlelight-Dinner mit einem deutlich jüngeren Mann hatte.“

 

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