Von Brigitte Koziol

Da sitzt sie nun, zwischen den Scherben dieser atemberaubend teuren, antiken Vase aus China.

Wie konnte das nur passieren? Wurde sie geschubst?

Ist sie vielleicht kurzzeitig ohne Bewusstsein gewesen?

Das wäre eine Erklärung, die sogar zutreffen könnte, schließlich war sie in letzter Zeit schon dreimal ohnmächtig geworden. Aber jetzt und hier?

Ihr schwirrt der Kopf. Sie kann sich nicht bewegen.

Wie versteinert sitzt sie da und murmelt vor sich hin: „Das habe ich nicht gewollt, das habe ich nicht gewollt…“

Eine dicke Träne formt sich in ihrem rechten himmelblauen Auge, kullert schon hinab und fällt auf ein Stückchen Porzellan.

Der Drachenkopf ist deutlich zu erkennen, sein Hals fehlt und der Rest seines Körpers. Irgendwo in diesem „China – Porzellan – Puzzle“ wird er sich wiederfinden.

 

Die Menschenansammlung um sie herum wird immer größer.

Die erschrockenen, tröstlichen und mitleidsvollen Blicke nimmt sie nicht wahr.

Sie hört auch nicht das Raunen und Stimmengemurmel.

Sie sitzt da und weiß nicht, was sie machen soll.

So etwas nennt man wohl „Schockstarre“.

 

„Vorsicht, gehen Sie doch mal zur Seite. Achtung, Platz da, ich muss hier durch!“

Eine vitale Endsechzigerin drängelt sich bis zu diesem unfassbaren Unglück hindurch.

„Oh je, oh je“, jammert sie. „Das teuerste Stück in meiner Ausstellung. Wissen Sie eigentlich, dass dieses Prunkstück ein Unikat von unermesslichem Wert ist? Nein, war!“, schreit sie die Frau an, die noch immer wie erstarrt auf dem Boden sitzt.

„Ich fasse es nicht!“ Ihr Kopf ist plötzlich hochrot und sie schnappt nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen.

„Das habe ich nicht gewollt“, stammelt die Verursacherin des immensen Schadens leise vor sich hin.

„Wie bitte? Ich verstehe wohl nicht richtig?“, antwortet die Ausstellungsleiterin.

„Nicht gewollt… Das wird ja immer schöner.“ Sie ist so aufgebracht, dass sie mit ihren Armen unkontrolliert um sich schlägt.

„Jetzt stehen Sie doch endlich auf oder wollen Sie hier übernachten?“

 

Die Frau am Boden hebt ihren Kopf und blickt der anderen ins Gesicht.

Sie erkennt die Galeristin sofort wieder.

Frau Papenstedt, ihre damalige Kunstlehrerin, der sie nie etwas recht machen konnte.

Da ist die Erinnerung wieder da und dieser eine Satz, der sich in ihr Gehirn eingebrannt hat: „Julia Janssen, du kannst einfach gar nichts, das ist doch alles keine Kunst, was du da machst. Hoffentlich wirst du nie in diesem Metier arbeiten. Gott bewahre.“

 

Wie ein Stich ins Herz trifft es Julia, heute wie damals.

Ungerecht fand sie es und gemein. Wo schließlich jeder Mensch ein Künstler oder eine Künstlerin ist. Das sagte Beuys doch auch.

 

Die Galeristin erkennt Julia nicht, sie ist nur etwas irritiert, weil die junge Frau sie so intensiv anschaut.

„Was ist jetzt?“, raunt sie Julia an, „Stehen Sie endlich mal auf?“

Die Zuschauer ringsherum warten gespannt, wie es weitergeht.

Ein Mann mischt sich ein.

„Die Frau kann nichts dafür. Ich habe es gesehen. Sie ist ausgerutscht. Wasser oder ein verschüttetes Getränk vielleicht.“

„Aha, Sie haben das gesehen. Dann werden Sie mal schön hier bleiben und der Polizei alles berichten.“, ermahnt sie den Mann, der nur vorsichtig mit dem Kopf nickt und sich freiwillig lieber ruhig verhält.

Die Galeristin ist noch immer außer sich, ihr Kopf noch stark gerötet.

 

Julia kommt langsam wieder zu sich und merkt, dass ihre Arme und Beine ihr wieder gehorchen und ein vorsichtiges Aufstehen ermöglichen.

Mit einem großen Schritt steigt sie über die vielen Scherben.

 

„Sie bleiben natürlich auch hier. SICHERHEITSDIENST!“, ruft Frau Papenstadt so laut wie möglich, „Alles absperren, verstanden?“

Der herbeieilende Mann in Uniform nickt eifrig mit dem Kopf. „Alles absperren. Verstanden.“

„So, und Sie alle können jetzt mal weitergehen und sich die anderen Exponate der Ausstellung ansehen!“, befiehlt sie den anderen Besuchern.

„Hier gibt es nichts mehr zu sehen. Danke. Und nun zu Ihnen“, spricht sie Julia an.

„Ich bin zwar gut versichert, aber so ungeschoren kommen Sie mir nicht davon. Ich bin immer noch so entsetzt. Nein, nein, nein, eine Katastrophe.“

 

„Das habe ich nicht gewollt.“, antwortet Julia, aber tief in ihrem Herzen kommt ein anderes Gefühl hoch und formuliert sich in ihrem Kopf: „Das habe ich genau so gewollt.“

Sie überreicht Frau Papenstedt ihre Visitenkarte, auf der in dicken Lettern `Galerie Julia Janssen´ zu lesen ist, dreht sich um, steuert auf den Ausgang zu und lässt die völlig irritierte Galeristin, die wie versteinert auf die Visitenkarte starrt und keinen Ton mehr von sich gibt, elegant stehen.

 

Schockstarre, was sonst.

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