Von Marianne Apfelstedt

Das Mädel mit Zahnlücken und geflochtenen Zöpfen, das Oma und Opa in der Küche half, wurde hier lebendig. Jetzt war ich wieder zu Hause und dieses Mal wollte ich für immer bleiben. Genauso wie in Kindertagen war ich glücklich, wenn der Dampf aus den Töpfen aufstieg und allerlei Gewürze in der Nase kitzelten. Die Haare praktisch kurz, doch die Jeans sind geblieben, genau wie das heimelige Gefühl zwischen Gasherd und Steinzeug-Fliesen. Opa stand jeden Tag am Herd und bekochte die Gäste, die mit ihm in die Jahre kamen. Er setzte mit bayerischer Küche auf Tradition. Rezeptvorschläge, die ich während meiner Lehrjahre ausgetüftelt hatte, lehnte Opa Helmut ab. 

„Ich glaube dir, dass in München Tofu auf der Speisekarte steht. Überleg mal, der Huber Sepp und die anderen vom Stammtisch essen doch keinen Tofu. Du darfst gerne ein neues Dessert aussuchen. Da sind unsere Gäste probierfreudig“, erklärte er mir. Damit war das Thema für ihn erledigt. Mit Nachspeisen umgarnte ich ihn, süßen Verführungen widerstand er selten. Bei Mousse au Chocolat schmolz er dahin. Sonntag war der einzige Tag der Woche, an dem Wirtsstube gut gefüllt war.

 

An diesem Sonntag kochten wir für eine große Familienfeier, eine Verlobung. Tante Hilde und Tochter Lea halfen in der Küche aus.

„Nele, hast du die Eismasse kühl gestellt?“, fragte Opa.

„Ja, ist erledigt.“

„Hilde und Lea, ihr putzt den Salat. Nele, du rührst die Salatsoße an.“ Aus Balsamico, frischem Orangensaft, Ahornsirup, mittelscharfem Senf und Olivenöl rührte ich das Salatdressing an. Orangenzesten verfeinerten die Vinaigrette. Ich kostete das Dressing. Gaumenschmeichler.

„Nele, lass mich die Salatsoße probieren“, forderte Opa. Ich reichte ihm einen Dessertlöffel mit sämigem Dressing. Er zog den Löffel langsam von seinen Lippen zurück, von den Augen abwärts breitete sich ein Lächeln aus. „Würzig und fruchtig, mit genau der richtigen Konsistenz. Fast perfekt. Es fehlt Pfeffer. Hast du die Walnüsse angeröstet?“ 

„Wird gleich erledigt. Zuerst muss ich die Orangen filetieren, dann röste ich die Nüsse.“ Ich hatte das Gefühl, viel langsamer als Opa zu sein, er war immer einen Tick schneller. Helmut stand schon Jahrzehnte in der Küche, sein Leben lang. Eilig verstaute ich Essig und Öl. Die Ölflasche rutschte mir aus der Hand und krachte auf die Fliesen. Vorsichtig packte ich die großen Scherben in einen Eimer, die kleinen sammelte der Handfeger ein. Geschwind wischte ich das Öl auf. Für das Hauptgericht gab es eine Menge vorzubereiten. Fleißig wie ein Uhrwerk arbeiteten wir das Pensum ab. Opa lief mit weit ausholenden Schritten an mir vorbei Richtung Kühlraum. 

„Ja Sacklzement, wer hat denn hier was verschüttet, zum Donnerwetter?“, wetterte Opa. Ich hörte einen Aufprall und drehte mich um.

„In der Eile habe ich nicht alles aufgewischt …“, erklärte ich, weitere Worte blieben mir im Hals stecken, als ich sein schmerzverzerrtes Gesicht sah. Er lag ausgestreckt auf den Fliesen. Ich eilte zu Opa, um ihm hoch zu helfen. Keine Chance. Mit Tante Hildes Hilfe hievten wir Opa auf einen Stuhl. Aschfahl saß er in unserer Mitte. 

„Tut mir leid …“ Weiter kam ich nicht, mit einem Knödel im Hals und tränenden Zwiebelaugen verstummte ich, weil mich sein Blick traf. Opas Stimme war leise, aber fest: „Nutzt jetzt nix. Die Gäste warten! Lea, hol die Brezenknödel aus dem Kühlraum und brate sie bei mittlerer Hitze im Butterschmalz an. Hilde, schau gleich nach dem Wildschweingulasch, wenn es köchelt, gib die Zartbitterschokolade hinzu. Lass mich dann die Soße probieren, ob Gewürze fehlen. Die Maronen würfeln und dazugeben. Nele, der Salat soll raus. Ist er fertig? Auf Geht‘s!“, kommandierte Opa. Ich marinierte die Salatblätter, richtete Chicorée, Radicchio und Feldsalat in Schüsseln an. Gab dann Walnüsse und Orangenfilets obendrauf. Opa scheuchte uns mit seinen Anweisungen durch die Küche und überprüfte wie ein Vorkoster alles, bevor serviert wurde. Das Zepter fest in der Hand. Die verschiedensten Aromen schwebten Tönen gleich durch die Luft.

„Meine Schmerzen werden stärker. Lea, ruf bitte einen Sanka“, bat Opa, dessen Gesichtsfarbe sich immer mehr seiner Kochjacke anglich. Kaum war der Hauptgang zu seiner Zufriedenheit auf den Tellern angerichtet, traf das Rettungsteam ein. Die Sanitäter legten Opa auf die Trage und schoben ihn zum Krankenwagen. Ich stand daneben, meine Hände kneteten imaginären Teig und die Zähne walkten die Lippen. Hoffentlich ist nichts gebrochen. Lea zog mich zurück in die Küche. Konzentriert richtete ich die Dessertteller an. Ich löste das Schokoladensoufflé aus der Form und portionierte das cremige Haselnusseis, gespickt mit Nusssplittern. Ein Klecks landete auf der Arbeitsfläche. Superlecker. Lea reichte mir die Waffelherzen. Zusammen mit filetierten Orangenspalten, Granatapfelkernen und roter Beerensoße garnierte ich die Nachspeise. Der herb süße Schokoladenduft, Nuss und fruchtige Aromen vermischten sich und umschmeichelten meine Nase. Voilà der krönende Abschluss. Teller an Teller reihten sich die Desserts aneinander, wie der Knoblauch am Zopf, zur Ausgabe bereit. Ich gönnte mir zartschmelzendes Eis und eine Tasse Kaffee, schwarz und heiß. Erschöpft ließ ich mich auf den Küchenstuhl fallen. Wie konnte ich nur so fahrlässig sein? Hilde war kurz nach dem Rettungswagen losgefahren. Hoffentlich ruft sie bald an. 

„Ist Eis übrig?“, fragte Lea.

„Ein kleiner Rest ist in der Maschine. Magst du Kaffee?“

„Nein. Wir haben das gut hinbekommen, finde ich. Gibt es Nachricht von Opa?“

„Leider nicht.“ Wir verputzten das restliche Eis und tauschten Neuigkeiten über Freunde aus dem Städtchen aus. 

„Hast du jetzt schon vegetarische Kochrezepte ausprobiert?“, fragte Lea.

„Nein, leider nicht. Ich habe so viele Ideen und Rezepte im Kopf, davon will Opa nichts hören. Du kennst ihn doch. Neues steht seiner Tradition im Weg. Seine Gewohnheiten sind festgefahren, Veränderung fällt ihm schwer.“

„Normalerweise kommen Opas Freunde und Bekannte zum Essen. So viele Gäste wie heute waren schon lange nicht mehr da. Vielleicht lässt er sich mit der Zeit auf Neuerungen ein“, munterte Lea mich auf. Wir putzten die Küche, jeder in die eigenen Gedanken versunken. Die Gastrospülmaschine spuckte im Zehn-Minuten-Takt heiße Geschirrlawinen aus, die wir aufräumten. Endlich erlöste mich mein Handy.

„Helmut ist im OP, die Schenkelhalsfraktur wird operiert. Ich fahre nach Hause und packe ihm eine Tasche für seinen Krankenhausaufenthalt.“ 

„Die Gäste sind gegangen. Ich war so leichtsinnig. Ist Opa sauer auf mich?“

„Nein, das glaube ich nicht. Besuche ihn doch und rede mit ihm“, schlug Tante Hilde vor.

 

Einige Tage später saß ich an Opas Krankenbett, er wirkte älter, als ich ihn in Erinnerung hatte. Unsicher vermied ich es, ihm in die Augen zu sehen. 

„Nele, was ist los?“, bohrte er. 

„Ich bin schuld an deinem Unfall, weil ich das Öl nicht richtig aufgewischt habe?“

„Das lässt sich nicht mehr ändern, das nächste Mal bist du bestimmt sorgfältiger. Ich bin so froh, dass du wieder zu Hause bist. Komm, setz dich. Willst du mir von deinen Ideen erzählen?“, gestand er lächelnd. Endlich, ich weihte ihn in meine Pläne zur Umgestaltung ein und er hörte mir zu, bestärkte mich.

„Pack es an und halte mich auf dem Laufenden.“ Ich bemerkte, wie müde er aussah. 

„Jetzt ruh dich aus. Du wirst sehen, in einigen Wochen stehst du wieder in der Küche. Wir bringen dir leckeres Essen mit, dann kommst du schneller auf die Beine. Versprochen!“ Ich umarmte ihn und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, die Stärkere von uns beiden zu sein. In der Reha entdeckte Opa WhatsApp für sich. Ich sendete ihm Fotos vom Fortschritt der Renovierung. 

*** 

Heute kam Opa nach Hause, sein Heilungsprozess schritt voran, trotzdem war er noch auf Krücken angewiesen. Die letzten Wochen hatte ich genutzt, um die Gaststube zu entrümpeln und neu zu streichen. Der Staub der Jahrzehnte war verschwunden. Die Speisekarte, erweitert um Vorspeisen, vegetarische Gerichte und Nachtisch Kreationen, lag bereit. Oh Mann, das Tofugericht. Was er dazu sagen wird? Sonntag Nachmittag gab es jetzt mini Desserts und Kuchen zum Haferl Kaffee. So fanden sich neue Gäste im Gasthaus ein. Um Opa Helmut zu verwöhnen, gab es sein Lieblingsdessert, Apfelstrudel. Knuspriger Blätterteig, umhüllte saftige Apfelstückchen. Zimt und Apfel bandelten mit feiner Vanille an. Mit seinen Gehstützen inspizierte Opa den Gastraum.

„Gelb mochte ich schon immer, das ist dir gut gelungen“, lobte Opa Helmut. 

„Danke. Nele hat mir geholfen. Für dich habe ich Apfelstrudel nach Omas Rezept gebacken.“

„Der Strudel schmeckt wie bei deiner Großmutter. Weißt du noch, wie Sie dir gezeigt hat, wie Vanillesoße zur Rose aufgeschlagen wird?“, erinnerte sich Opa lächelnd.

„Oh ja, ich dachte, mein Arm fällt gleich ab, vor lauter Rühren. Du Opa, ich muss dir was zeigen.“ Unsicher schob ich ihm die neue Speisekarte über den Tisch.

„So, du hast in meiner Abwesenheit renoviert und die Karte geändert, dann lass uns mal deine Rezepte durchgehen.“

„Ich war mir nicht sicher, ob du einverstanden bist, mit den Änderungen.“ Zusammen feilten wir an den Speisen auf der Karte. Er freute sich über ein Dessert, mit dem Namen „Helmuts Packerl“. Nach einigen Ergänzungen aus der alten Karte, der Stammkunden zu liebe, stimmte er zu. 

„In der Reha gab es einen Kurs, Zeichnen am Computer. Hat mich an meine Jugend erinnert, als junger Mann habe ich mit Kohle gezeichnet. Deine Speisekarte, wenn du das Familiengasthaus leitest, würde ich gerne für dich entwerfen. Auf die erste Seite kommt ein Familienfoto. Eines von früher, wo du das Mädchen mit den Zöpfen warst und eines von der jungen Frau, auf die ich so stolz bin. An zwei Tagen in der Woche helfe ich dir, sobald ich wieder fit bin, die restliche Zeit nehme ich mir dann frei.“

 

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