Von Michael Jaffke

Susanne fühlte sich gut angekommen. Zumindest was ihre Arbeit betraf. Von Oldenburg nach Münster gezogen. Eine gut dotierte Anstellung als Versicherungsmathematikerin bei einem ansässigen mittelgroßen Versicherungskonzern ergattert. Die Kolleginnen und Kollegen dort weitestgehend hilfsbereit, sympathisch. Der Wohnungsmarkt in Münster war zwar sehr ausgedünnt. Aber nach langem Suchen hatte es auch mit der eigenen Wohnung etwas außerhalb der Stadt geklappt.

Die Wochenenden allerdings fand Susanne öde. Familie, Bekannte, Freundinnen hatte sie in Oldenburg zurückgelassen. Ihr war klar, dass sie sich an ihrem neuen Lebensmittelpunkt mehr um ihr Sozialleben kümmern müsse.

Nach ein paar Monaten mit diesen leeren Wochenenden suchte Susanne die angeblich so angesagte Disco „happy ending“ auf. Da würde gut tanzbare Musik gespielt. Die Leute seien locker drauf. Sagte eine Arbeitskollegin.

Für den ersten Besuch im „happy ending“ an einem Samstagabend hatte sich Susanne eine Strategie überlegt. Sie wollte sich auf die anwesenden Einzelpersonen konzentrieren. Die müssten offener sein für Kommunikation. Vielleicht auch wie sie selbst auf der Suche nach Kontakten. Ob Männer oder Frauen? So richtig klar war das Susanne nicht, was sie eigentlich wollte. Nur lockere Kontakte? Nur Gespräche? Einen Mann fürs Bett? Lieber doch keinen Mann? Sie war schließlich  schon Ende 20. Müsste endlich mal jemanden finden, mit dem es in dem einen oder anderen Punkt weitergeht. Schließlich gehörte so was wie Sex doch auch zum Leben dazu.

Sie prüfte die wenigen anwesenden Einzelmänner. Zu dick. Zu klein. Zu wenig Haare. Zu alkoholisiert. Völlig durchgeschwitzt. Tanzmuffel. Oder ausgestattet mit diesem Scanblick. Die Susanne nicht ins Gesicht sahen. Sie stattdessen von der Brust zum Hintern und wieder zurück einer irgendwie gearteten Prüfung unterzogen. Sie spürte das.

Susanne verließ Sonntagmorgen um ein Uhr das „happy ending“. Stieg in eines der vor der Tür stehenden Taxis und ließ sich nach Hause fahren. Im Bett spürte sie noch die scannenden Blicke.  Sie bekam Lust. Schlief unruhig ein.

Für den zweiten Samstagabend hatte sich Susanne kein Ziel gesetzt. Sie wollte einfach alles auf sich zukommen lassen. Damit vielleicht auch lockerer sein. Im Laufe des Abends fiel ihr ein Mann auf, der wie sie am Rande der Tanzfläche stand. Den Tanzenden zusah. Er war eher schlank, einen Kopf größer als Susanne. Hatte etwas längere dunkle Haare. Die er sorgfältig hinter sein rechtes Ohr streifte, wenn sie ihm mal ins Gesicht fielen. Später schlängelte er sich durch die Menge der Tanzenden in die Mitte der Tanzfläche. Tanzte. Susanne war fasziniert von der Beweglichkeit dieses Mannes. Dem Einklang zwischen seinen Bewegungen und der gerade spielenden Musik. Sie sah, wie er den Rhythmus und die Stimmung der Musik aufnahm. Die Musik durch fließende Bewegungen mit seinen Armen, dem Oberkörper, den Beinen, dem Becken, dem ganzen Körper ausdrückte. Susanne spürte, dass diese intensive Art des Tanzens etwas in ihr auslöste.

Sie fand diesen tanzenden Mann sehr anziehend. Zunächst suchte sie seine Nähe auf der Tanzfläche. Imitierte seine Tanzbewegungen. Zumindest annähernd. Sie hatte mal gelesen, dass sich die Bewegungen von Menschen spiegeln, wenn sie sich sympathisch finden. Sie suchte Blickkontakt zu ihm. Auch wenn seine Augen meistens geschlossen waren.

Susanne entschied, dass es Zeit war, diesen Mann näher kennenzulernen. Als dieser bei einem etwas langsameren Lied die Tanzfläche Richtung Theke verließ, folgte sie ihm. Er bestellte ein stilles Wasser. Susanne bestellte daraufhin das gleiche. Sie blickte zu ihm. Da er sie gar nicht beachtete, sprach sie ihn von der Seite an. Mit Worten wie: dass Wasser wohl genau das richtige Getränk für den Flüssigkeitsverlust nach dem Tanzen sei. Er antwortete etwas darauf. Aber das kam schon nicht mehr in ihrem Gehirn an. Sie überlegte krampfhaft, wie sie es schafft, wenigstens an die Telefonnummer dieses Mannes zu kommen. Sie konstruierte sich etwas zurecht von Tanzen als Ausdrucksform. Einem geplanten Tanzkurs. Sie sei auf der Suche nach einem Tanzpartner. Susanne merkte, dass sie all ihre Energie aufbrachte. Um endlich an das Ziel zu kommen: die Telefonnummer. Oder die Adresse. Oder wenigstens den Namen.

Diesmal verließ Susanne erst um vier Uhr morgens das „happy ending“. Stieg in eines der vor der Tür stehenden Taxis ein und ließ sich nach Hause fahren. Im Bett betrachtete sie die Visitenkarte. Darauf stand sein Name „Heinz von dem Berge“, seine Berufsbezeichnung „Motivationstrainer“ und seine Kontaktdaten.

Aus taktischen Gründen ließ Susanne mehrere Tage verstreichen. Bevor sie Heinz anrief. Für einen Sonntagnachmittag verabredete sie sich mit ihm im Eiscafé „venezia“. Sie bestellte sich einen „Coppa Caramello“. Heinz einen Cappuccino. Durch geschickte Gesprächsführung und Fragetechnik hatte sie schnell die wesentlichen Fakten herausgearbeitet: abgebrochenes Psychologiestudium, danach selbständiger Motivationstrainer, Anfang 30, nicht in einer Beziehung, Tanzen war wohl sein großes Ding in der Freizeit.

Unter der Woche führte Heinz meist außerhalb von Münster bei Kunden Motivationstrainings durch. Susanne blieb beharrlich an ihm dran. Sie organisierte Treffen an seinen freien Tagen. Vor allem an den Wochenenden. Meistens gingen sie zusammen spazieren. Um die Promenade. Den Aasee. Susanne schaffte es nicht, ihn zu sich nach Hause einzuladen. Er lehnte das ab. Seine Meinung war: in Bewegung und mit frischer Luft lässt sich besser denken und reden. Man ist einfach lockerer drauf. Die Gedanken können sich besser entwickeln. Das wäre auch eine seiner Methoden bei den Motivationstrainings.

Susanne merkte, dass ihr das Reden guttat. Oder vielmehr sein Zuhören. Das interessierte Nachfragen. Die vorsichtigen Hinweise. Seine andere Sicht auf die Dinge. Susanne entschied für sich, dass ihr das wohl erstmal so reichen müsse. Sie ordnete ihn unter „Frauenversteher“ ein. Was sie anerkennend meinte.

Susanne zog nach genau zehn Treffen ein Resümee. Sie stellte fest, dass sie sich Heinz gegenüber total geöffnet hatte. Heinz ihr bei vielen Problemen und Fragestellungen eine gute Hilfestellung war. Sie aber kaum etwas über sein Innerstes wusste. Was ihn bewegte. Was er für Zukunftspläne hegte. Sie wusste, dass es mit Heinz nicht über das Reden hinausgehen wird.

An dem einen Tag gingen sie wieder um den Aasee spazieren. Sonntagnachmittags. Schönstes Sommerwetter. Um 15 Uhr waren viele Fußgänger, Hunde, Kinder, kreuz und quer rennend, mit Tretrollern oder Fahrrädern unterwegs. Susanne ging das ein wenig auf den Nerv. Dass sie beide den vielen Objekten ausweichen mussten. Das Gespräch war intensiv, sehr persönlich. Es kamen auch zwei, drei zarte Öffnungen von Heinz. Aber dauernd wurden sie durch dieses slalomhafte Laufen unterbrochen.

Susanne überlegte, wie es an dem einen Tag zu der Situation kam. Wenn sie sich noch recht erinnerte, musste Heinz plötzlich einem Hund ausweichen. Machte einen großen Schritt vor Susanne. Drehte sich danach wieder um zu ihr. Muss dabei ein wenig gestrauchelt sein. Sich dann an ihr festgehalten haben. Eine Hand an ihrer Taille. Der andere Arm über ihre linke Schulter gelegt. Ihre Gesichter waren in dem Moment ziemlich nahe beieinander. Wie noch nie. Die Zeitspanne, bis Heinz seine Hände wieder von ihrem Körper entfernt hatte, empfand Susanne ungewöhnlich lange. Ein paar Millisekunden zu lang. Das war damals der Eindruck von Susanne.

Heinz entschuldigte sich. Er war nach dieser Situation ungewohnt schweigsam.

Susanne meldete sich nicht mehr bei Heinz. Ihr war seit dieser Situation am Aasee klar, dass ihr nur das Reden oder Eis essen mit Heinz auf Dauer zu wenig waren. Heinz hatte sich aus eigenem Antrieb bisher nie bei ihr gemeldet. Es war der letzte Termin mit Heinz.

***

Susanne versuchte es anschließend mit Kontaktanzeigen, Partnerbörsen, Besuchen von Kursen bei der Volkshochschule, Ansprechen von potentiellen Kandidaten in der Warteschlange an der Supermarktkasse. Mangels langfristiger Erfolge entschied sich Susanne nach mehreren Jahren, diese Versuche einzustellen. Aufwand und Erfolg standen ihrer Meinung nach in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander.

Ungefähr 35 Jahre nach dieser Situation am Aasee häuften sich bei Susanne die Probleme. Im Beruf stressten die wesentlich jüngeren Vorgesetzten. Gesundheitlich gab es ein paar Einschläge. Psychisch war sie instabil. Sie erinnerte sich, wie Heinz ihr damals eine gute Hilfe war. Sie erinnerte sich aber auch an die Situation am Aasee. Sie fragte sich, ob sie vielleicht damals hätte anders reagieren sollen.

Sie nahm ihr Smartphone zur Hand und suchte im Internet nach dem Namen „Heinz von dem Berge“. Es gab nur wenige Treffer mit diesem Namen. Sie klickte auf den Link eines Unternehmens, das Luxusjachten verkaufte. Ein weiterer Link führte zu einem Foto des Geschäftsführers: es war „ihr“ Heinz. Kaum gealtert. Lebenserfahrener. Braun gebrannt. Immer noch mit dunklem, vollem Haar. Im Impressum suchte sie seine E-Mail-Adresse.

Susanne tippte:

„Hallo Heinz,

du kannst dich sicherlich noch an unseren Spaziergang am Aasee vor fast 40 Jahren erinnern. Hätte ich dich küssen sollen, als wir uns so ungeplant in den Armen lagen?

Alles Liebe

Susanne – immer noch in Münster“

Ein paar Tage später erhielt Susanne die Antwortmail von Heinz:

„Ja. Hat aber lange gedauert bis zu dieser Erkenntnis. 😛😛😛“ (drei Emojis mit herausgestreckter Zunge)

Susanne spürte einen tiefen Stich in ihrer Magengegend. Die Sache mit Heinz war dann wohl endgültig beendet. Überlegte, ob sie ihm drei Stinkefinger als Antwort zurücksenden sollte. Ihre Contenance hielt sie davon ab.

Dann waren da noch die Erinnerungen. Susanne machte sich daher auf den Weg zu dem Eiscafé „venezia“. Bestellte sich einen „Coppa Caramello“. Wie damals mit Heinz.

Und diesmal ausnahmsweise noch einen Cappuccino dazu.

Den Heinz sonst immer trank.

Es sollte der letzte Besuch sein.

 

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