Von Björn Neumann
Heinz Müller war vierundvierzigeinhalb Jahre alt. Mit seinen Einmeterachtzig, dunkelblonden Haaren und braune Augen, war er genau so unscheinbar und durchschnittlich, wie es sein Name vermuten ließ. Er war schon in der Schule oder im Sport nie der Schlechteste, aber auch nie der Beste. Heinz lief in seiner Gewöhnlichkeit immer ganz selbstverständlich und unscheinbar mit.
Heinz Müller stand jeden Morgen exakt um 6:30 Uhr auf, wusch sich, putzte die Zähne, rasierte sich und scheitelte sein Haar äußerst akkurat, zog seinen grau-weiß-gestreiften Bademantel an und begab sich Punkt 7:00 Uhr an den Frühstückstisch. Er aß wochentags zwei belegte Brote. Eines mit Leberwurst und eines mit Käse. Für die Arbeit schmierte er sich nochmal dieselbe Kombination. Nur sonntags gab es zur Abwechslung eines mit Marmelade und zusätzlich ein Ei. Nach dem Frühstück zog sich Heinz Müller den hellgrauen Anzug und ein weißes Hemd mit einer passenden grauen Krawatte an. Er band sich die schwarzen Lederschuhe und klemmte sich eine schwarze Aktentasche mit dem Frühstück unter den Arm, so dass er um 7:30 Uhr seine Wohnung in der Hauptstraße 6 verlassen konnte. Heinz war der fleischgewordene 3-er im Lotto. Belanglos, farblos und würde es ihn nicht geben, niemand hätte ihn vermisst. Er war nicht verheiratet; wäre er es, so hätte er sicherlich 1,53 Kinder. Nicht, dass das möglich wäre, aber 1,53 Kinder sind der Durchschnitt und Heinz Müller war Durchschnitt. Der Traum jeder Schwiegermutter, aber in seiner Belanglosigkeit unsichtbar für die Frauen in Heinz‘ Welt.
Heute war Mittwoch und wäre nicht Mittwoch gewesen, so fühlte sich doch jeder Tag in Heinz‘ kleinem Kosmos wie ein Mittwoch an. Sein Leben war ein Schwarzweißfilm und dieser tägliche Film führte ihn als nächstes zur Bushaltestelle, wo er genau zwei Minuten auf den Bus wartete. Dieser würde ihn zur Arbeit bringen. Zur Hausener Zahnradfabrik.
Doch auf dieser Fahrt passierte täglich etwas Wunderbares. Schon kurz bevor der Bus Ecke Schul- zur Gartenstraße erreichte, schlug sein Herz kurz schneller. Und hätte jemand Heinz gekannt, wäre demjenigen aufgefallen, dass Heinz‘ Mundwinkel für einen Moment nach oben zuckten. Jeden Morgen stand an dieser Stelle ein kleines Mädchen mit einer roten Schleife im Haar. Und in diesem Moment wurden, für einen kurzen Augenblick, die grauen Häuserschluchten bunt und die Sonne strahlte. Jedes Mal, wenn sich ihre Blicke trafen und das Mädchen lächelte, wurde seine Welt ein kleines bisschen heller. Sie nahm ihn wahr und es war so, als könnte dieses Mädchen direkt in seine Seele sehen. Für diesen einen kleinen Atemzug, bevor sich die Wolken wieder zuzogen und das triste Grau erneut vorherrschte.
Genau um 7:57 Uhr betrat er, wie jeden Tag, das Werkstor und wurde vom schnauzbärtigen Pförtner mit einem „Guten Morgen, Herr …“ und einem gegrummelten Namen, der in ebendiesen Schnurrbart verschwand, begrüßt. Heinz bestieg den Paternoster, der ihn in die 3. Etage zur Kreditoren-Buchhaltung brachte. Hier setzte er sich an einen Schreibtisch in einem Großraumbüro in der letzten Reihe ganz hinten links. Heinz‘ Aufgabe war es, die Eingangsrechnungen in dem Stapel, der sich linkerhand auf seinem Schreibtisch befand, mit einem Kontierungsstempel zu versehen, die Kontierung einzutragen und rechts auf den Stapel für die erledigten Vorgänge zu legen. All dies geschah im monotonen Takt der großen Uhr, die über der Tür die Minuten in quälender Langsamkeit bis zum Feierabend zählte. Heinz betreute die Vorgänge L bis M, was, wie sich versteht, die mittleren Buchstaben des Alphabets sind. Sobald er die letzte Akte von der linken auf die rechte Seite beförderte, stand auch schon Frau Schulte vor seinem Schreibtisch. Auch sie war Mitte vierzig. Ihr streng zu einem Dutt gebundenes Haar wies die ersten grauen Strähnen auf und mit der hochgezogenen Augenbraue hinter der Hornbrille, war sie das Paradebeispiel der gestrengen Lehrerin. So erschien sie Heinz jedenfalls, wenn sie den Stapel der unerledigten Vorgänge wieder auffüllte und der Stein des Sisyphos erneut den Berg hinunterpolterte. So ging es Tag für Tag, bis der große Zeiger der Uhr auf der Zwölf und der Kleine auf der Fünf stand und die Klingel zum Feierabend rief.
Wieder zuhause angekommen, aß Herr Müller noch zwei Brote. Eines mit Leberwurst und eines mit Käse. Dazu gab es eine Gewürzgurke und einen schwarzen Tee. Nachdem er einen Blick in die Zeitung warf, löste er noch das ganzseitige Kreuzworträtsel auf Seite 12 und jedes Mal scheiterte er an derselben Aufgabe: „Sichtbar mit 11 Buchstaben“. Danach ging es, wie jeden Abend, um Punkt 22:15 Uhr ins Bett, bis der Wecker am nächsten Morgen um 6:30 Uhr die Wiederholung einläutete.
Man weiß nicht mehr genau, ob es wieder ein Mittwoch war. Jedenfalls war an diesem Tag alles anders. Heinz merkte es schon nach dem Aufstehen, dass dieser Tag nicht so sein würde, wie all die anderen davor. Das Brot schmeckte fad, er schnitt sich beim Rasieren und auch ein Schnürsenkel riss. Der Bus hatte zwei Minuten Verspätung. Ebenso schien das Grau, in das sein Leben getaucht war, eine Schattierung dunkler. Und als er zur Kreuzung Schul-/Gartenstraße kam, war da kein Mädchen mit roter Schleife. Stattdessen war dort eine Menschenansammlung und die einzige Farbe, die er wahrnahm, war heute das zuckende Blaulicht eines Krankenwagens an den Häuserwänden. Doch obwohl Heinz seinen Hals reckte und streckte, konnte er nicht gewahr werden, was dort vor sich ging. In den folgenden neun Stunden des Felsbrocken-den-Berg-Hochrollens, quälte ihn diese ungewisse, fürchterliche Vorahnung und er fasste den Entschluss, heute zu Fuß nach Hause zu gehen. Er musste sich vergewissern, was Garten- Ecke Schulstraße passiert war. Dort angekommen, traf die Erkenntnis ihn wie ein Schlag. Es waren Bremsspuren zu erkennen und etwas abseits des getrockneten Blutes, im Rinnstein, lag ein rotes Haarband. Heinz wischte sich eine Träne aus den Augen, hob das Band behutsam auf und steckte es in die Jackentasche seines Anzugs.
Heinz lag noch wach im Bett, als der Wecker einen neuen Tag einläutete. Er dachte diese Nacht an das kleine Mädchen, er dachte über sein farbloses Leben und die verpassten Chancen nach. Als er heute die Krawatte binden wollte, hielt er inne. Gedankenversunken sah er den grauen Stoff an. Dann legte er sie zurück in die Schublade. Er griff in seine Jackentasche und nahm die Schleife. Er legte sie um den aufgerichteten Kragen des Hemdes und band daraus eine Fliege. So machte er sich auf den Weg. Und heute schien es so, als sei die Welt, sei sein Leben bunt. Die Sonne beschien seinen Weg. Der Busfahrer lächelte ihm zu und der Pförtner grüßte ihn mit seinem Namen. Es war grad so, als wäre er das erste Mal in seinem Leben sichtbar, als würde er erstmals wahrgenommen. Zwar rollte auch heute der Stein nicht auf die Spitze des Berges, aber das machte nichts. Heute umspielte der Mund der Frau Schulte ein sanftes Lächeln, als sie ihre Augenbraue hochzog. Und sobald die Klingel den Feierabend einläutete, würde er sie fragen, ob sie mit ihm spazieren gehen würde. Heinz hatte noch eine Blume Kreuzung Schul-/Gartenstraße abzulegen. Eine Rote.
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