Von Agnes Decker

„Er ist wieder da.“

 „Gregor? Bist du das?“ 

„Ja, Mann“, die Stimme wird jetzt etwas lauter, klingt aber immer noch rau und belegt. „Heinz. Er ist wieder da. Ich hab ihn gesehen.“

„Du weißt, dass das nicht möglich ist. Du weißt es doch. Oder?“ Ich höre mein eigenes Stammeln und spüre zu meiner Verwunderung, dass ich mit dem Kopf schüttele.

„Ich habe ihn gesehen, Miri. Er ging an der Kirche vorbei.“ Gregor räuspert sich. „Du musst Rolli anrufen und Cordula. Ich informiere Piet.“

„Rolli? Das kann ich nicht. Da war doch gestern … Du weißt schon. Seine Mutter.“

„Ok, dann rufe ich ihn an. Er muss es doch auch … Also, bis dann. Wir sehen uns. Heute Abend.“ 

„Wo, Gregor, wo treffen wir uns? Und wann?“

„Na, wo schon? Acht Uhr. Ok.?“

„Neun ist besser“, sage ich leise. Um die Zeit gehe ich häufig nochmal mit dem Hund raus und keiner wird fragen, wo ich hin will.

„Und denk dran, Cordula anzurufen.“ 

„Ja, bis später“, murmele ich noch, aber da hat er das Gespräch schon beendet.

Ich stecke das Telefon in die Aufladestation und lehne mich mit dem Rücken an die Wand. Mein Kopf fühlt sich an, als ob eine Luftblase darin schweben würde, leer und merkwürdig leicht. Plötzlich schießt die Magensäure in meine Kehle. Ich reiße meine Hand hoch, halte sie vor den Mund und schaffe es gerade noch bis ins Gästeklo. Dort falle ich auf die Knie und würge stoßweise den ganzen Mageninhalt heraus. 

„Mama? Mama?“ Tims Stimme überschlägt sich. Gleich wird er anfangen zu schluchzen.

„Mama ist hier, Schatz. Auf dem Klo. Bin gleich bei dir“, presse ich heraus. Mit einer Hand auf dem Waschbecken, das vernehmlich knirscht, ziehe ich mich hoch. Sehe im Spiegel mein weißes Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen. Die Haare stehen nach allen Richtungen ab und das Shirt hat feuchte, dunkle Flecken.

Ich drehe den Hahn auf, warte, bis das Wasser eiskalt ist,  fange es in beiden Händen auf und werfe es mir ins Gesicht. Wieder und wieder. Mit dem Handtuch rubbele ich solange, bis die Blässe auf meinen Wangen einem fleckigen Rot weicht, fahre mir noch schnell mit der Haarbürste durch die widerspenstigen Locken und gehe dann zu meinem kleinen Sohn.

„Wer kommt in meine Arme?“ Mit einem Freudenschrei rennt Timmi los. Ich fange ihn auf und drücke ihn fest an mich. Seine Lebendigkeit vertreibt die Kälte auf meiner Haut und ein bisschen die Angst. 

Ich setze mich auf einen der Korbstühle und schaue aus dem Fenster. Die Sonne wirft einen Lichtstrahl ins Zimmer und lässt die Staubflocken darin tanzen. Heute wird es warm werden. Wenn man der Wettervorhersage trauen kann. Der erste richtige Sommertag. Trotzdem ist mir eiskalt.

Ich streichele meinem kleinen Sohn, der sich in meinen Arm gekuschelt hat, über den Rücken und spüre, wie ich ruhiger werde. Es ist so friedlich. Und ich möchte, dass es so bleibt. Warum nur, verdammt, warum ist er zurückgekommen? Und wie ist das möglich? Aber vielleicht war er es gar nicht. Vielleicht hat Gregor sich geirrt. 

Timmi schlägt seine Augen auf. Wir schauen uns an. Es ist wundervoll, so tief in ihn hineinzutauchen, als könnte ich sein ganzes Wesen erfassen. Jetzt  beginnt er zu strampeln. Behutsam setze ich  ihn auf den Boden. Noch etwas unsicher auf den Beinchen läuft er in seine Spielecke, lässt sich auf den Po fallen und beschäftigt sich mit seinen Bauklötzen. 

Ich muss dringend Cordula anrufen. Denn sie war ja auch dabei, damals. Als Heinz verschwand. 

Sie haben ihn überall gesucht. Wirklich. Aber sie haben ihn nicht gefunden. Mit hellen Stablampen haben sie gesucht. Und mit Hunden. Zuerst im Haus, in der Garage, im Garten, dann im angrenzenden Park und in dem Wald hinter dem Sportplatz. 

Gerufen haben sie nach ihm. „Heinz, Heinz …. „ Ein unheimlicher Kanon ohne Antwort. Einer der Hunde nahm eine Fährte auf. Die hat dann aber auf dem Parkplatz geendet. Dass er dort abgeholt wurde, haben sie vermutet. Von irgendwem. Dann riefen sie seine Familie an. Auch uns haben sie befragt, alle Schulkameraden, Bekannte und weiter entfernte Verwandte. Nichts. Er hat sich nirgendwo gemeldet. Und ist nie mehr aufgetaucht. Bis heute. 

Irgendwann wurden die Ermittlungen eingestellt. Aber da waren wir schon zum Studium in alle Ecken der Republik verstreut. Auch die Familie von Heinz hat unsere Stadt verlassen, ist nicht mehr zurückgekommen. Wir schon, nach und nach. Treffen uns aber nur noch zufällig. Wie das so ist, wenn man erwachsen wird und sein eigenes Leben lebt.

Als ich aus der Versunkenheit auftauche und auf die Uhr schaue, sehe ich, dass fast  zwei Stunden vergangen sind. Ich wähle Cordulas Nummer. 

„He, Miri“, meldet sie sich und ich höre ihr an, dass sie schon Bescheid weiß. Cordula räuspert sich und spricht leise, fast flüsternd: „Piet hat mich angerufen. Er ist wieder da. Wie kann das sein, Miri? Das ist doch nicht möglich.“ 

„Ich weiß es nicht, keine Ahnung“, stammele ich, und: „Lass uns heute Abend darüber reden, ja? Auf dem Spielplatz. Ok?“

„Ja, bis dann.“ 

Ich lege mein Handy weg und mache mich an die Arbeit. Der Tag vergeht langsam. Die Stunden dehnen sich aus, obwohl ich mit allerlei Alltagskram beschäftigt bin: Aufräumen, Mittagessen zubereiten, Unkraut zupfen, mit Timmi spielen, den Hund füttern, Wäsche waschen und aufhängen. Und bei allem, was ich tue, spüre ich eine innere Unruhe, die immer stärker wird. Bis es endlich dunkel wird, Timmi eingeschlafen ist, und Freddy vor dem Fernseher sitzt, mit einer Tüte Chips in ein Fußballspiel vertieft. Glücklich in seiner Männerwelt.

„Bin noch mal mit dem Hund um die Ecke“, rufe ich ihm zu. Ein zufriedenes Brummen ist die Antwort. 

Boomer, unser Golden Retriever, wedelt und wufft, als ich ihm das Geschirr anlege. Draußen ist es dunkel und nieselt ein bisschen. Das war‘s wohl mal wieder mit dem Sommer. Ab und zu schaut der Sichelmond für einen Moment zwischen den schwarzen Wolken hervor, die der Wind vor sich hertreibt. Als ich mich dem Spielplatz nähere, sehe ich ein paar  punktförmige rote Lichter aufglühen. Die Schaukeln und die Rutsche mit dem Elefantenkopf zeichnen sich scharf, wie mit Kohlestift umrandet, vor dem Licht der Straßenlaterne ab. Ich bin die letzte. Gregor und Piet sitzen auf der Lehne der Bank, die Füße auf der Sitzfläche. Cordula steht daneben und zeichnet mit einem Stock Muster in den Sand und wischt sie sofort wieder aus. Rolli lehnt mit dem Rücken an der riesigen Buche und wippt mit dem Fuß, so als würde er einem nur für ihn hörbaren Rhythmus folgen. Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben.

„He Miri, ja dann …“, Gregor legt beide Hände auf die Knie und schaut uns nacheinander an. „Also, er ging an der Kirche vorbei. Richtung Friedhof. Er war es. Glaubt es mir. Er hat immer noch diesen schlenkernden Gang.“ 

Boomer wälzt sich im Sand. Ansonsten ist es still. So still, dass ich die Atemgeräusche der anderen hören kann.

Nach einer Weile löst sich Rolli von dem Baumstamm, mit dem er fast verschmolzen erschien, und gesellt sich zu uns. „Aber ihr habt ihn doch, Gregor, ich meine, du hast es gesagt, dass ihr ihn weggebracht habt. Hast du doch?  Er war so bleich. Ich hab’s ja gesagt. Wir hätten den Rettungswagen holen sollen, die Polizei. Vielleicht war er wirklich noch …“ Rolli schaut auf den Boden, als hätte er Angst, eine Antwort in unseren Gesichtern zu sehen. 

„Was soll das? Keiner von uns konnte noch klar denken. Mann, das wisst ihr doch selber.“ Gregor nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, dann wirft er sie auf den Boden und zertritt sie mit dem Fuß.

„Aber du bist noch mit dem Auto gefahren.“ Rolli räuspert sich mehrmals. „Du konntest noch fahren, Greg.“

„Mann, Rolli. Ja, ich konnte noch fahren und, ja, ich habe ihm den Faustschlag verpasst. Wer konnte ahnen, dass er so unglücklich fällt?“ Gregor schlägt mit der Faust auf die Lehne der Bank. „Hätten wir den Rettungsdienst geholt, wären wir heute nicht das, was wir sind. Das wisst ihr genauso wie ich.“

„Gregor hat recht. Vielleicht sollten wir nachschauen, ob er es wirklich ist, bevor wir uns streiten. Was meint ihr?“ Piet war schon früher der Vernünftigste von uns.

 „Wie, wie meinst du das? Nachschauen. Wo sollen wir denn nachschauen?“ Mir ist plötzlich eiskalt und ich zittere. Nein, ich will das nicht. Will nach Hause. Freddys zufriedenes Brummen hören, wenn ich das Haus betrete. Timmis leises Schnarchen, wenn ich in sein Zimmer schleiche, ganz leise, um ihn nicht zu wecken. 

 „Jetzt hört auf. Er war tot. Das wissen wir alle. Keiner von uns wollte das. Wir wollten ihm nur drohen, damit er uns nicht verrät.“ In Cordulas Stimme ist ein Schluchzen. „Mehr wollten wir doch nicht, oder?“

„Natürlich nicht. Es war ein Unglücksfall. Er war selber schuld. Wie er da plötzlich am Seeufer auftauchte und uns zuschaute, wie wir uns auszogen und übereinander …  Völlig zugedröhnt.“

„Hör auf Gregor, ich will das nicht.“ Cordula schluchzt jetzt laut vor sich hin.

„Und dann hat er die Fotos gemacht mit seinem Handy.“ Gregor stützt sich mit beiden Händen auf die Rücklehne der Holzbank und starrt ins Dunkle. „Wir mussten etwas tun. Wir mussten.“

„Also gehen wir jetzt zu der Höhle und schauen nach, ob er noch da ist.“ Rolli berührt Gregor an der Schulter, der immer noch vor sich hinstarrt.

„Aha, da habt ihr ihn also versteckt.“ Ein Mann tritt hinter einem Busch hervor. Im Gegenlicht kann ich sehen, dass er groß ist und breitschultrig. Mit einem eigenartig schlenkernden Gang kommt er auf uns zu.

„Heinz?“ Schrill bricht es aus mir heraus.

Der Mann bleibt stehen. „Nein, nicht Heinz. Georg. Musste lange warten auf diesen Moment. Bin gestern zurück. Aus England.“ Er lacht auf. Ein bitteres Lachen. Dann fährt er fort. Mit dieser heiseren Stimme, die der von Heinz so ähnelt. „Er hätte mich nie alleine gelassen. Nie. Ich war doch sein kleiner Bruder. Er hatte mir erzählt, dass er sich an euch rächen wollte. Weil ihr ihn gequält habt, immer wieder.“ Er deutet auf Gregor. „Dir bin ich gefolgt, nachdem du mich entdeckt hattest…“  Er hält sein Handy hoch. „Hier ist alles drauf. Und die Polizei wird auch gleich hier sein.“ 

 

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