Von Ursula Riedinger

Barbara Koller hatte die Türe zu ihrem Labor offen gelassen. Sie musste unbedingt ihren Prof abfangen, wenn der endlich aus seinem Büro kam. Die Türe war schon seit Stunden zu, was bedeutete, dass er nicht gestört werden wollte. Unter keinen Umständen. Da, endlich! Professor Berchthold wollte schon vorbeieilen, als sie ihn aufhielt.

«Herr Professor, ich bräuchte dringend einen Termin mit Ihnen. Sonst komme ich bei diesem Versuch nicht weiter. Möglichst bald.»

«Jetzt muss ich ans Institutsmeeting, schreiben Sie mir doch eine E-Mail. Habe aber frühestens Ende nächster Woche Zeit.»

Damit eilte er den Korridor entlang mit seinem fast hüpfenden Schritt  Richtung Hauptgebäude. Wie wenn er so schneller wäre. Immer in Eile. Barbara schaute ihrem Doktorvater hinterher. Nächste Woche, das war zu spät, was sollte sie denn bis dahin machen … ‘Vielleicht finde ich selbst doch noch einen Weg!’ Trotzig ging sie zurück ins Labor zu ihrem laufenden Versuch.

Dass alle per Sie mit Berchthold waren, war typisch für ihn. Mit allen anderen Profs am Institut waren die Doktorandinnen und Doktoranden per Du. Mit Albertini, Roberto, mit Nieves, Carmen, mit Sieger, Ruedi, mit Pankow, Gerda … Berchthold war fachlich sehr kompetent, da liess sich nichts aussetzten, aber menschlich ein Pflock. Das dachte nicht nur Barbara Koller. Und immer diese gehetzte Art. Unter den Doktoranden und Studenten hielt sich das Gerücht, dass er vor vielen Jahren an einem Institutsfest ziemlich angetrunken zwei hübschen Doktorandinnen das Du angeboten hatte, nur um es am nächsten Tag wieder rückgängig zu machen. Peinlich, so etwas.

Nach seiner Sitzung mit der Institutsleitung hatte Professor Berchthold eine kurze Mittagspause eingeschaltet, die er wie immer alleine verbrachte, um gleichzeitig seine Mails zu beantworten und die NZZ zu überfliegen, während er abwesend ein Birchermüesli löffelte.

Er schickte Barbara Koller eine kurze Antwort mit einem Termin am Mittwoch der nächsten Woche.

Kurz vor zwei machte er sich auf zur Brandschutzveranstaltung der freiwilligen internen Feuerwehr. Wieso er dazu ja gesagt hatte, wusste er jetzt nicht mehr. Seine Kollegen hatten ihn dazu gedrängt. Von wegen Vorbild und so. Schliesslich wurde von allen Doktoranden der Chemie erwartet, dass sie einen solchen Kurs absolvierten. Aber seine Zeit am Institut würde früher enden als ihm lieb war, da hätte er sich diesen Kram auch schenken können. Schliesslich hatte er Wichtigeres zu tun. Sein neuestes Paper stand kurz vor dem Abschluss, dafür war er in seinem Buch über die Chemie von Farbstoffen noch nicht so weit gekommen, wie er gehofft hatte. Auch seine vier Doktorandinnen beanspruchten unglaublich viel seiner Zeit.

Auch Heinz Sprenger hatte gerade viel am Hals. Als 1. Laborant war es in seiner Verantwortung, die Chemikalien, die am Nachmittag in den Praktika der erstsemestrigen Chemiestudenten gebraucht wurden, bereitzustellen. Und das waren doch 4 Gruppen zu ca. 20 Studentinnen und Studentinnen. Am Mittag legte Heinz eine kurze Mittagspause in seinem Büro ein, wo er sein am Morgen selbst zubereitetes Sandwich mit Frischkäse, Tomaten und Kräutern verzehrte. Danach stellte er alles fertig und schob den Wagen mit den Versuchschemikalien in den E-Trakt hinüber.

Eine Viertel Stunde vor dem Brandschutzkurs schlenderte er gemütlich zum Treffpunkt auf der unteren Terrasse. Gregor, der Brandschutzbeauftragte, der ausgerechnet Brand hiess, war schon da. Sie plauderten ein wenig über das, was am Chemischen Institut gerade so los war. Nach und nach trudelten die anderen Teilnehmenden ein. Ganz zuletzt Professor Berchthold.

«Dann sind wir ja jetzt alle. Willkommen zum heutigen Brandschutzkurs, wo wir uns wieder mit ein paar reizenden Feuerchen befassen werden. Viele sind ja schon länger dabei. Neu ist Professor Berchthold. Zuerst werden wir uns gegenseitig vorstellen. Bei der Feuerwehr ist es üblich, dass wir uns duzen. Wie ist dein Name?»

Damit wandte er sich Berchthold zu.

Professor Berchthold schien unangenehm berührt. Was sollte das Theater? Er zögerte.

«Heinz», kam es widerwillig.

«Tja, das ist etwas blöd, wir haben schon einen Heinz.»

Er deutete auf Heinz Sprenger.

«Du kennst ihn ja. Dann ist einfach Heinz Sprenger Heinz 1. Du bist dann Heinz 2. Kein Problem, dann legen wir los.»

Berchthold räusperte sich.

«Dann möchte aber ich Heinz 1 sein», sagte Professor Berchthold laut und mit der ganzen Kraft seiner Autorität.

Schweigen, dann verhaltenes Gelächter. Berchtold pflegte eigentlich keine solch plumpen Witze zu machen. Aber das war doch wohl ein Witz.

Der Kurs war wie immer sehr lehrreich. Und Brand hatte immer viel Spass dabei. Sobald er zu Ende war, war Professor Berchthold auch schon verschwunden. Hinter ihm wurde getuschelt.

«Alter arroganter Sack, typisch …»

Zwei Stunden später schlich Professor Berchtold dem Korridor entlang, als Barbara gerade auf dem Weg zur Bibliothek war.

«Was ist Ihnen denn passiert, Professor Berchthold? Sie sehen so erschlagen aus.»

«Sagen Sie, Frau Koller, bin ich ein alter, arroganter Sack?»

«Wie kommen Sie denn da drauf? Sie sind wie Sie sind. Ich schätze jedenfalls Ihre grosse Erfahrung, Fachkompetenz und Zuverlässigkeit.»

«Aha, die einen meinten halt …»

Barbara war überrascht über den verunsicherten Blick in seinen Augen. Dann war auch schon wieder in seinem Büro verschwunden. Die Tür wurde heftig zugeworfen.

Barbara hatte die Episode schon fast vergessen, als Professor Berchthold sie am anderen Morgen zu sich ins Büro rief. Er schien fast verlegen. So kannte sie ihn nicht.

«Frau Koller, bitte rufen Sie auf heute Nachmittag um 14 Uhr meine Doktorandinnen im Pausenraum zusammen. Es sollten ja alle da sein heute. Und bestellen Sie in der Kantine ein paar Lachsbrötchen.»

«Ist gut, mache ich, Professor. Und danke für den Termin nächste Woche.»

Sie schickte ihren Kolleginnen, Julia, Jennifer und Pilar eine E-Mail.

«Surprise, surprise, unser Prof lädt uns heute um 14 h im Pausenraum zu Lachsbrötchen ein. Also seid pünktlich.

«Habe keine Zeit, was ist denn in den gefahren?»

«What happened?»

«Was soll denn das bedeuten?»

Barbara schrieb zurück, dass es glaub wichtig sei und sie sich unbedingt die Zeit nehmen sollten.

Als sich Barbara kurz vor 14 Uhr die Hände wusch und zum Pausenraum rüberging, war sie die erste. Professor Berchthold war gerade dabei, eine Flasche Prosecco zu entkorken. Gläser, Servietten und die Brötchen standen auf dem Tisch.

«Wo bleiben die anderen Damen?»

«Sie kommen sicher gleich, sie wurden halt etwa überrascht …»

Als alle da waren, knetete Berchthold verlegen die Hände.

«Ich habe euch, also Sie, zusammengerufen, um anzustossen auf Ihre Arbeit und …, und auf unsere zukünftige Zusammenarbeit.»

Er drückte allen ein Glas Prosecco in die Hand.

«Auf Sie! Und jetzt möchte ich Ihnen das Du anbieten, wenn es noch nicht zu spät ist …. Ich bin jetzt Heinz. Jenny, Barbara, Julia, Pilar, auf euer Wohl, cheers!»

Etwas steif stiessen alle mit Heinz an, zu ungewohnt war diese Vertrautheit.

«I will explain later», flüsterte Barbara Pilar zu, die nicht sehr gut Deutsch verstand.

«Genauer gesagt Heinz 2.» Berchthold erhob sein Glas nochmals in ihre Richtung, ein kleines, verlegenes Lächeln auf den Lippen.

PS: Auch lange nach der Pensionierung von Professor Berchthold machte die Geschichte über Heinz 1 über ihn die Runde am Institut. Ob er seinen Doktorandinnen tatsächlich das Du angetragen hatte, wusste niemand mehr mit Sicherheit zu sagen. Seine damaligen Doktorandinnen waren in alle Welt zerstreut. Barbara Koller, die Jahre danach als Chemieprofessorin an die Uni Zürich zurückkehrte, mochte sich nicht über ihren Doktorvater äussern.

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