Von Anni Spreemann

„Legen Sie nicht auf, sonst sind Sie in einer Stunde tot“, sagte eine verzerrte Stimme.

 Heinz blinzelte verwirrt. „Was?“

„Ihr Kaffee war vergiftet. Wenn Sie meine Anweisungen befolgen, erhalten Sie das Gegengift.“

„Wie bitte?“, quickte Heinz und starrte auf die leere Tasse vor ihm. Der Kaffee hatte zwar nach Abwaschwasser geschmeckt, aber das hieß nicht, dass er vergiftete gewesen war. Er legte die Hand auf seinen Bauch.

„Falls unsere Handyverbindung unterbrochen wird, rufe ich nicht wieder an und Sie sterben. Gehen Sie zur Treppe.“

„Warum ich?“, platzte es aus ihm heraus. Er war ein einfacher Versicherungsvertreter. Was auch immer diese Person von ihm wollten, er würde kläglich versagen.

„Weil Sie als Erster einen Kaffee bestellt haben.“

Sein Mund fühlte sich trocken an. Sein Magen begann zu krampfen. Er hätte auf seine Frau hören sollen. Sie versuchte schon seit Jahren ihn davon zu überzeugen lieber schwarzen Tee zu trinken. Wie erstarrt verweilte er im samtenen Lobbysessel.

„Die Zeit läuft. An ihrer Stelle würde ich endlich aufstehen.“

„Woher wissen…“

„Das hat Sie nicht zu interessieren. Gehen Sie, sonst leg ich auf“, unterbrach die Stimme Heinz. Langsam erhob er sich und taumelte auf die Treppe zu. Niemand schien ihn zu beobachten. Warum auch. Er war ein Gast, der auf sein Zimmer ging.

„Bis zu welcher Etage?“

„In die Achte.“

Heinz stöhnte. Das war weit oben. Er dachte an seine schlechte Kondition und steuerte den Fahrstuhl an. Er wollte schon die Hand nach dem Knopf ausstrecken als ihm einfiel, dass in den stählernen Kasten oft der Empfang unterbrochen wurde. Also drehte er ab und steuerte die unscheinbare Tür, die zur Notfalltreppe führte, an.

„Kluger Junge“, raunte es aus der Leitung. Heinz Nacken begann zu kribbeln, als würde er beobachtet. Er drehte sich um und betrachtete die Menschen. Ein Pärchen saß Hände haltend am Tisch. Ein Mann las Zeitung. Alles wirkte völlig normal. Nur der Portier nickte ihm freundlich zu, als sich ihre Blicke trafen. Wusste er irgendetwas?

„Ihr Leben scheint Ihnen nicht viel Wert zu sein“, kommentierte die Stimme und weckte ihn damit aus seiner Erstarrung.

„Ich geh ja schon“, erschrak Heinz und begann den Aufstieg. Sein linkes Knie protestierte und er zog sich am Treppengelände hoch. Er schwitzte und fragte sich, ob es die ersten Anzeichen des Giftes waren. Seine Kehle schwoll an und er bekam kaum Luft. Oben angekommen wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

„Beeilung! Gehen Sie durch die Tür!“, rief die Stimme und ließ Heinz zusammenzucken. Für einen kurzem Moment hatte er das Handy und die bedrohliche Stimme vergessen. Wankend betrat er den Flur. Zwischen den Zimmertüren standen Podeste mit Vasen und kitschigen künstlichen Blumen.

„Und jetzt?“

„Laufen Sie bis zum Zimmer 823.“

Heinz nickte und schlurfte los.

„Bin da.“

„Unter dem Teppich finden Sie die Schlüsselkarte.“

Heinz zögerte. „Soll ich etwa einbrechen?“

„Besser als sterben.“

Das war ein guter Einwand, befand er und bückte sich nach der Karte.

„Sie brauchen noch den Gegenstand aus der Vase links neben Ihnen.“

Nervös schaute er nach links und rechts und hoffte, dass nicht gerade ein Gast aus einem der Zimmer kam. Er klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Kinn, nahm mit der einen Hand die Blumen raus und griff mit der anderen hinein. Es war lang, schmal und aus Plastik.

Als er das Orange Ding in seiner Hand sah, schnappte er nach Luft. Ein Cuttermesser.

„Ich werde niemanden umbringen!“, rief er erschrocken.

„Jetzt gehen Sie schon rein“, schnauzte die Stimme. Heinz schluckte die Spucke hinunter, die sich in seinem Mund gesammelt hatte, als würde er gleich kotzen müssen.

„Denken Sie an das Gift. Bald fühlen sich Ihre Hände taub an und können die Aufgabe nicht erledigen.“

Heinz brauchte mehrere Anläufe, bis die Schlüsselkarte endlich den Schlitz traf. Der dunkle Raum entspannte seine schmerzenden Augen. An der Wand lehnend, stand eine riesige Leinwand, mit dem Porträt eines lesenden Mannes.

„Sie müssen das Bild vom Rahmen lösen, einrollen und in die Postrolle stecken“, informierte ihn die Stimme.

Erleichtert, dass er niemanden töten sollte, begutachtete er das Objekt. Die Leinwand war mit Tackernadeln befestigt. Er legte das Handy beiseite und holte tief Luft, um das Schwindelgefühl zu verscheuchen. Seine Hände zitterten, als würde sie auf dem Klavier ein Tremolo spielen. Bei der ersten Klammer rutschte er ab und schlitzte sich den Unterarm auf. Sein Blut kam ihm dunkler vor als sonst. Lag das an seiner Vergiftung? Während er sich mit seiner Krawatte den Arm verband, rannen ihm kostbare Minuten davon.

Den dumpfen Schmerz ignorierend, schnitt er die Leinwand vom Rahmen. Die Ölfarbe rieselte auf den braunen Teppich und der Cutter wurde immer stumpfer. Endlich löste sich das Bild und er konnte es einrollen. Schweiß floss seine Brust hinunter. Das Atmen fiel ihm schwer. Er keuchte, als würde er noch immer die Treppen hochgehen. Die Zeit! Sie lief ihm davon. Er brauchte das Gegenmittel. Er nahm das Handy in die Hand. „Und jetzt?“
„Bringen Sie es nach unten zur Post. Falls Sie jemand erwischt, sind Sie Tod.“

 

Die Tür wurde aufgerissen. Eine Schar uniformierter Männer trampelte in den Raum. „Heben Sie ihre Hände hoch!“, brüllte jemand. Heinz folgte der Anweisung und ließ zeitgleich die Postrolle fallen. Sie kullerte zu den schwarzen Stiefeln der Männer. Einer bückte sich und nickte den anderen zu. „Der Tipp war richtig“, raunte er zufrieden.

„Ich bin unschuldig“, stammelte Heinz und presste die Ohrmuschel an seine Brust. „Ich wurde dazu gezwungen!“, flüsterte er.

„Das können Sie mit ihrem Anwalt klären.“

„Bitte, Sie müssen mir glauben. Ich wurde vergiftet. Wenn ich den Anweisungen nicht folge, muss ich sterben.“

„Legen Sie den Cutter weg und heben Sie beide Hände nach oben.“

Das Messer fiel dumpf zu Boden, doch das Handy blieb in der Hand. Vor Heinz Augen tanzten schwarze Pünktchen. „Bitte, Sie müssen mir glauben.“

Der Polizist beugte sich nach vorne und nahm ihm das Handy ab. „Niemand dran“, informierte er seinen Kollegen.

Heinz sank auf die Knie. Es war alles umsonst gewesen. Nun würde er sterben. Seine Frau würde unten am Tisch auf ihn warten und sich über ihn ärgern, weil er zu spät kommt.

„Man hat mich vergiftet“, jammerte Heinz. Seine Knie gaben nach und er ließ sich auf den Boden sinken. Das Blut in seinen Adern brannte wie Feuer. Heinz schüttelte panisch den Kopf und bekam keine Luft. Sein Magen krampfte und er krümmte sich vor Schmerz. Er dachte an Petra. Seine wunderbare Frau. Er musste sie sehen, sich von ihr verabschieden. „Ich will mit meiner Frau reden.“
„Wir bringen Sie auf das Revier, dort können Sie mir ihr telefonieren.“

Er wurde an den Armen gepackt und hochgezogen.

Verzweifelt biss er sich auf die Unterlippe und schmeckte Blut. In wenigen Minuten würde er sterben! Sein gesamter Körper zitterte.

„Sagen Sie Petra, dass ich sie liebe!“, schniefte er und versuchte sich die Tränen mit der Schulter abzuwischen.

Ein Knall ertönte und für einen kurzen Augenblick, glaubte Heinz, er sei erschossen worden. Plötzlich war überall Konfetti. Die Tür schwang auf und der Butler und die Kellnerin kamen lächelnd herein. Alle begannen zu klatschen. Petra stürmte auf ihn zu. Sie überhäufte ihn mit Küssen. „Du warst großartig“, jauchzte sie. „Hat es dir gefallen? Das neueste Exit Game auf den Markt. Dein eigenes Abenteuer. Du bist wunderbar. Ich liebe dich. Alles Gute zum Hochzeitstag!“

 

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