Von Herbert Glaser

 

Geschichte Eins:

In der Tür blieb der Junge stehen und ließ seinen Blick über das Innere des Wirtshauses schweifen, dessen Tische nur sehr spärlich besetzt waren.

Ein Kalender an der Wand wies den aktuellen Tag als Freitag, den 1. Juli 1949 aus.

Durch die trüben Fensterscheiben warf die Sonne kleine Lichtinseln auf den Fußboden.

„Nun mach schon die Tür zu“, rief die Bedienung, eine hagere Frau mit grauen Haaren, deren Gesicht ein Mosaik aus Furchen und Schatten war. Ihre Stimme klang wie verwässerter Schnaps.

Hastig kam er der Aufforderung nach und trat ein.

„Was willst‘n hier, bei uns gibt‘s keine Almosen. Müssen selber schauen, wie wir über die Runden kommen.“

„Ich hab Geld.“

Stolz zeigte der Junge der Bedienung einige Münzen.

„Wo hast‘n das her?“

„Hab ’ne Extraschicht gemacht … beim Bauern.“

Schlagartig hellte sich die Miene der Frau auf. Sie reichte ihm die Hand, ihr Druck war erbarmenswert schwach.

„Na wenn das so ist … dann setzt dich doch.“

Sie führte ihn zu einem leeren Tisch.

„Was darf‘s sein?“

Sie schaute ihm ins Gesicht, auf die dünnen Lippen und den felsigen Grat seiner unteren Zahnreihe.

Der Junge deutete auf eine Tafel, auf der mit Kreide Schweinebraten mit Kartoffeln für 1 Mark geschrieben stand.

„Etwas zum Trinken dazu vielleicht?“

Der Junge blickte auf die Münzen in seiner Hand, zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf.

„Wird gemacht.“ Die Bedienung verschwand in der Küche.

Der Junge bemerkte einen gut gekleideten Gast an einem der Nebentische, der seinen Blick erwiderte. Es handelte sich um einen Mann jenseits der Lebensmitte, in dessen Augen Unternehmungslust und Intelligenz funkelten. Verlegen schlug der Bub die Augen nieder und sah auf seine Hände.

Kurze Zeit später wurde ein üppig gefüllter Teller vor ihn auf den Tisch gestellt.

„Guten Appetit der Herr.“

Mit gierigen Augen sah er auf den Schweinebraten, nahm rasch das Besteck und zwang sich, langsam und bedächtig zu essen, wobei er jeden Bissen sichtlich genoss. Auf dem Gesicht des Mannes, der ihn während der ganzen Zeit beobachtete, erschien ein Lächeln.

„Hat‘s geschmeckt?“ Seine Stimme war tief und melodisch wie der Klang eines Cellos.

Der Junge nickte verlegen.

„Wie heißt du denn?“

Heinz‘ Blick hielt sich an der Tischplatte fest. Er wurde rot und nuschelte seinen Namen.

Und wie alt bist du?“

„Zwölf … nächsten Monat.“

„Hast einen ganz schön großen Hunger gehabt, was Heinz?“

Verlegen nickte der.

„Und … bist du ganz satt geworden?“

Fragend sah Heinz den Mann an, dann schüttelte er den Kopf.

„Ich mach dir einen Vorschlag. Wenn du noch eine Portion von dem Schweinebraten verdrückst, dann geht die ganze Rechnung auf mich und ich spendiere noch eine Limo dazu. Schaffst du noch einen Teller?“

Heinz‘ Blick lief kreuz und quer über die Tischplatte, dann nickte er energisch.

„Komm, setz dich zu mir.“

Gänsehaut begann auf Heinzs Armen zu prickeln.

„Ich möchte lieber hier sitzen bleiben“, sagte er nicht so laut, aber umso entschlossener.

Der Mann war nur kurz überrascht.

„Wie du willst. Hast ja recht, man muss sich vorsehen.“

Er winkte der Bedienung.

„Traudl! Noch eine Portion für meinen jungen Freund hier … und eine Limo, aber eine große!“

Als Traudl den zweiten Teller brachte, beugte sie sich zu Heinz hinunter und flüsterte ihm ins Ohr.

„Brauchst keine Angst zu haben, ich kenn‘ den Mann gut. Er ist … also im Krieg musste er ins Ausland. Aber jetzt handelt er mit allem, was die Leute so brauchen, und das ist eine ganze Menge. Hat selber eine schlimme Zeit durchgemacht und seitdem ein sicheres Gespür, wer ein guter Mensch ist und wer nicht. Der will nichts von dir, glaub‘ mir.“

Nicht restlos überzeugt zwang sich Heinz zu einem Lächeln.

Obwohl er bei den letzten Stücken zu kämpfen hatte, verdrückte er auch die zweite Portion. Zufrieden hielt er sich den Bauch und trank das Glas mit der erfrischenden Limonade in einem Zug leer.

„Gratuliere Heinz. Zuhause gibt‘s wohl nicht viel zu Essen, oder?“

Heinz schüttelte den Kopf.

„Auf jeden Fall hast du deinen Teil erfüllt – Gratulation. Und ich bezahle!“

„Vielen Dank, Herr … auf Wiedersehen.“

Heinz sprang auf und wandte sich zum Gehen.

„Wohin denn so eilig?“

„Hab‘ noch ein Vorsingen für das Abschlussfest.“

Dann verschwand er nach draußen.

Fragend hob der Mann seine Hände in Richtung der Bedienung.

Die räumte den Tisch ab. „Das Kind, das am besten singen kann, darf auf der Feier zum Schulabschluss ein Lied vortragen.“

„Aha, dann drücke ich diesem Heinz die Daumen, dass er genauso gut singt, wie er essen kann. Traudl, bring mir bitte die Rechnung. Und eine Zigarre, aber eine von den guten!“

Heinz und der Mann haben sich danach nie mehr gesehen.

 

Geschichte Zwei:

Heinz hatte sich herausgeputzt. Das Hemd und die Hose, die er sonst nur zu den wichtigsten christlichen Feiertagen tragen durfte, waren fast wie neu.

Seine Schuhe hatte er so lange gebürstet, bis sie glänzten wie die schwarze Billardkugel, die er in einer der Kriegsruinen gefunden hatte. Seine Mutter hatte ihm dazu den letzten Rest Schuh-Pommade gegeben, den sie noch finden konnte.

Alles war perfekt. Heinz wartete im hinteren Teil der notdürftig renovierten Schulhalle, bis er aufgerufen wurde.

Als der Rektor seinen Namen vorlas, atmete er tief durch und machte sich auf den Weg zur Bühne, vorbei an den bis auf den letzten Platz belegten Stuhlreihen.

Seine Mutter hob aufmunternd beide Daumen in seine Richtung und nickte ihm stolz zu.

In den ersten Reihen saßen seine Mitschüler. Auch Bettina, die alle nur Betti nannten, hatte sich eingefunden, starrte aber stur geradeaus und würdigte ihn keines Blickes.

Ein triumphierendes Lächeln schlich sich auf Heinzs Gesicht, als er sie erblickte. Sie war es, die in den letzten beiden Jahren singen durfte, als Heinz den zweiten bzw. dritten Platz belegte.

Aber dieses Jahr war es soweit. Heinz hatte geübt, mehr als je zuvor und er hatte es geschafft. Alle Lehrer bestätigten ihm eine wunderbare Jungenstimme.

Dies sollte sein Tag werden. Nein, es war sein Tag.

Er, der eigentlich immer ein ruhiger, eher schüchterner Schüler war, platzte vor Stolz und Selbstbewusstsein.

Als er die wenigen Stufen zur Bühne hinauf stieg, musste er an den Opernsänger Peter Anders denken, von dem ihm sein Großvater so oft erzählt hatte und an die Schellackplatte, die er damals hören durfte.  „Das war ein Auftritt an der Bayerischen Staatsoper in München 1938“, pflegte sein Opa dabei immer zu sagen. Der Applaus am Ende der Aufnahme hatte Heinz sehr beeindruckt.

Einen solchen Beifall werde ich heute auch bekommen, dachte er, als er sich an den Rand der Bühne stellte und in die erwartungsvollen Gesichter der Zuhörer blickte.

Er schloss die Augen, atmete tief durch und öffnete den Mund.

Heraus kam nur ein Krächzen.

Heinz räusperte sich und setzte erneut an.

Wieder nur ein heiserer Abklatsch einer Stimme – seiner Stimme.

Hilflos sah er zu seiner Musiklehrerin, die neben der Bühne stand. Schnell reichte sie ihm ein Glas Wasser.

Heinz trank, gab das Glas zurück und räusperte sich mehrmals.

Unter den Zuhörern machte sich Unruhe breit, einige Gäste begannen zu tuscheln.

Heinz nahm seinen ganzen Mut zusammen und versuchte es erneut.

Mehr als ein schnarrendes Geräusch war seinem Mund jedoch nicht zu entlocken.

Da wusste Heinz es. Es war keine Erkältung. Nein, der Stimmbruch hatte begonnen … und das ausgerechnet heute, an seinem großen Tag.

Heinz sprang von der Bühne, vorbei an der lachenden Betti, vorbei an den anderen Mitschülern und den zahlreichen Gästen.

Und vorbei an seiner Mutter, die eine Hand vor den Mund gelegt hatte und wusste, was dieser Auftritt ihrem Sohn bedeutete – bedeutet hätte.

Heinz lief so schnell er konnte zum Ausgang und unterdrückte die Tränen, die so machtvoll aus seinen Augen drängten. Diese Schmach wollte er nicht auch noch erleben und schaffte es, sie so lange zurückzuhalten, bis er den Saal verlassen hatte und die Straße hinunterlief, nur weg vom Ort des Grauens.

 

Betti hatte doch noch ihren großen Auftritt. Sie sang zum dritten Mal hintereinander das Abschlusslied. Natürlich nicht, ohne ihr großes Bedauern über Heinzs Missgeschick auszudrücken. Jeder im Saal wusste, was sie wirklich empfand, denn ihr schauspielerisches Talent konnte mit ihren Gesangskünsten nicht annähernd mithalten.

 

Heinz brauchte einige Zeit, um den Schock zu verdauen. Seine Stimme kam zurück, allerdings hatte ihr neuer Klang nichts mehr mit der reinen Jungenstimme gemeinsam, die ihn so einzigartig gemacht hatte.

Das neue Schuljahr begann, seine Mitschüler sprachen noch eine Weile über das Ereignis, aber Heinz verlor kein Wort mehr darüber. Irgendwann ging der Schulalltag seinen gewohnten Gang.

Eine Bühne betrat Heinz allerdings nie mehr.

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