Von Renate Oberrisser

Wir waren eine feine Clique damals, während der Schulzeit und auch nachher noch eine Weile. Ein paar zumindest haben auch jetzt noch lose Kontakte. Ganz ehrlich, es lösten sich viele Freundschaften auf, seit damals. 

 

Hin und wieder laufen sich einige noch über den Weg. Oft nur mit einem verstohlenen Nicken. Seltener mit einem Gruß. Nur in Ausnahmefällen ein kurzes Gespräch. Das macht man heute nicht mehr. Aus Solidarität hält man Abstand. Man kommuniziert nur mehr in bestimmten Situationen, in Beschäftigung oder innerhalb eng definierter Interessengemeinschaften. Alles andere erledigt man bequemer weise über M!. Willst du etwas wissen oder andere wissen lassen, nutze M!. Jeder kann sich dort auf ‚clear fakt‘ bestens informieren. Anders bei der Soziabilität. Hier übermittelt M! automatisch die neuesten Skills, damit nichts übersehen wird. Vieles veränderte sich immer schneller, seit unserer Schulzeit damals. Ja, es war der Beginn von gigantischen Fortschritten und immensen Erleichterungen.

 

—-

 

Und dann, eines Tages, sehe ich einen Menschen vor einem dieser kleinen Social-Shops, die es für diejenigen gibt, die aus bestimmten Gründen nicht über M! konsumieren können. Ein Mann. Schmal. Mittelgroß.  Er trägt ein färbiges Shirt mit Spruch und verwaschene Jeans. Schulterlanges Haar, kurz gestutzter Bart, grau meliert. Ein Style, gepflegt, jedoch unmodern sondergleichen oder ‚Out of Hype‘, wie es inzwischen so schön heißt. Und er erinnert mich irgendwie an Heinz. Heinz,

wie er heute aussehen könnte.

 

 

Wie viele war auch ich kein besonders übereifriger Schüler. Damals. Ich spielte lieber Fußball mit meinen Freunden. Später entwickelte ich eine Vorliebe für technische Prozesse und bin dadurch heute in der glücklichen Lage beschäftigt sein zu können. Einige wurden Computerfreaks und verbringen mittlerweile mehr Stunden mit irgendetwas Online als in der Realität. Und einige? … ja das Leben ist eben so. 

 

So unterschiedlich wir auch waren und uns entwickelten, eines hatten viele von uns gemeinsam. Bestimmte Themen und Hintergründe interessierten uns so viel, wie einen Fisch das Weltall. Wir lebten vor uns hin und genossen die Unbeschwertheit des Lebens, soweit unsere Eltern uns dies ermöglichten. Wir waren so richtige Kinder unserer Zeit. Konsumierten was uns meinungsbildende Medien und globale Konzerne vorsetzten. Nur Heinz war anders. Heinz war neugierig. Heinz stellte Fragen. Oft nervte Heinz einfach nur.

 

Während der Schulzeit, damals, mussten wir uns durch verschiedene Bücher quälen, wie: Huxley’s ‚Schöne neue Welt‘ oder Orwell’s ‚1984‘. Einhellig vertraten wir die Meinung ‚welch verstörende Phantasien‘ und noch übereinstimmender fanden wir die Ausdrucksweise einfach mühsam. Nur Heinz nicht.  

„Weshalb schreiben die so etwas,“ löcherte er alle. Ob er Antworten bekam und welche, daran kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Er nervte oft einfach nur mit seiner Fragerei.

 

 

Aus welchem Grund erinnere ich mich jetzt ausgerechnet an diese Details in Bezug auf Heinz? Er war ja auch ein extrem lustiger Kerl, mit dem man viel unternehmen konnte.

 

„Heinz.“ Habe ich das gerade gerufen? Hat er mich gehört? Ich sehe dem Mann zu. Er blickt sich um, legt etwas gelbes in die Warenschütte vor dem Laden und geht in die andere Richtung davon.

 

Neugierig nähere ich mich der Schütte. Erkenne etwas zwischen den Produkten, dass hier sicher nicht hin gehört. Ich lege meine Business-Tasche auf den Rand und suche umständlich darin herum. Zucke mit den Schultern, ziehe den Reißverschluss wieder zu und gehe weiter. 

 

Nach einem endlosen Tag schließe ich die Wohnungstür hinter mir. Erleichtert öffne ich meine Tasche, nehme einen Packen Papier heraus. Ein Relikt aus der Vergangenheit. Ein Buch. Große, schwarze Buchstaben prangen auf einem einst glänzend gelben Einband. Zerfleddert und zerlesen.  Eselsohren ohne Ende. Ich blätterte darin. Unzählige Textmarkierungen und Notizen.  Auf der Seite 171 bleibe ich hängen:

 

Aldous Huxley, war Autor des berühmten Romans ‚Brave New World‘ aus dem Jahr 1932, zu Deutsch ‚Schöne neue Welt‘. Er beschreibt eine träge Gesellschaft in der Zukunft, in der die Menschen mittels Manipulation der Erbmasse und anschließender mentaler Indoktrinierung ruhig und willenlos gehalten werden, um von einer kleinen, elitären Kaste ohne Probleme kontrolliert zu werden. 

 

Meine Damen und Herren, das sind WIR! Wir leben bereits in Huxleys schöner neuer Welt-Ordnung! Eine kleine Gruppe extrem reicher Menschen kontrolliert alles, das Bildungs-, das Gesundheits- und das Finanzwesen, die Wissenschaft und die Mittel moderner Kommunikation.

 

Dreihundert  und achtundsiebzig Seiten. Vierhundert und siebenunddreißig Verweise im Literatur- und Quellenverzeichnis. 

 

Als es vor dem Fenster langsam hell wird schließe ich das Buch. So ein Unsinn der da drinnen steht. Kein einziger Eintrag war auf ‚clear fakt‘ zu finden. Und dafür habe ich mir die Nacht um die Ohren geschlagen. Und ich erkenne, warum ich mich in Bezug auf Heinz ausgerechnet an diese Details erinnerte. Auch noch Jahre später nervt Heinz einfach nur. Ich stehe auf, werfe das Buch auf den Tisch. Es fällt herunter. 

Die zusätzliche zerknitterte und  eingerissene Seite macht es nicht schäbiger denke ich und stopfe es in meine Tasche.

 

 

(„Mein Ziel war es, Ihnen mit diesem Buch so viele Informationen wie möglich zur Verfügung zu stellen. …

Damit möchte ich Ihnen die Möglichkeit geben, selbst weiter zu recherchieren. Es kann sein, dass manche dieser Quellenverweise nicht mehr existieren , wenn Sie dieses Buch in Händen halten. …

All jenen, die mit dem Löschen von Einträgen befasst sind, sei gesagt, dass ich die wichtigsten Beweise für die Echtheit meiner Behauptungen gespeichert und sicher verwahrt habe.“ S 355)

 

— 

 

Ein paar Tage später gehe ich wieder an diesem Social-Shop vorbei. Mir fällt das Buch in meiner Tasche ein und ich lege es zurück in die Schütte.  Als ich weiter gehe, sehe ich den Mann wieder. Auch dieses mal trägt er ein färbiges Shirt mit Spruch. 

 

Alles verschwamm im Nebel. 

Die Vergangenheit wurde getilgt, 

die Tilgung wurde vergessen, 

die Lüge wurde Wahrheit. 

 

„1984“ George Orwell 

 

Hat er mir gerade erkennend zugenickt? Hastig sehe ich nach links und recht, überquere die Straße. Ich will gar nicht wissen, ob er Heinz ist. 

 

Version 1 (6328 Zeichen)