Von Christiane Labusga

Es war ein schöner Tag: Wunderschön. Die Sonne stand hoch im blauen Himmel, spiegelte sich vielfach in den kleinen Wellen des Mains. Über dem Wasser auf der Brücke war es kühler als in den engen Gassen der Frankfurter Innenstadt. Vom Main stieg der leicht brackige Geruch auf, den man an Flüssen manchmal findet, und mischte sich mit den Bratendünsten des nahe gelegenen Anleger-Restaurants.

Eines der Touristenschiffe löste sich vom Kai, und Bine konnte beobachten, wie das Boot, vollbesetzt, flussaufwärts seine Route nahm. Zur EZB. Dem Gebäude, das Bine immer wieder aufs Neue an den Monolithen in „2001“ erinnerte. Sie lachte innerlich: Wie dreist waren diese Herren der Welt eigentlich, so ihre absolute Dominanz ungeschminkt darzustellen? Es gab doch immer noch genug Laternenpfähle, hatten sie denn keine Angst, dort einmal ihr Ende zu finden? Anscheinend lernte man doch nicht aus der Geschichte …

„So, schön“, sagte Manfred.

„Ja.“

„Woran denkst du?“

„An attac!“

„Lol. Und Heinz? Schon vergessen?“

„Heinz ist Vergangenheit, endlich!“

Manfred dreht sich zu ihr um, nimmt sie ganz behutsam in seine Arme.

„Ja, Heinz ist Vergangenheit, und wir und Ronja sind die Zukunft!“

Es ist wirklich komisch, denn das ist in den letzten zehn Jahren so nicht passiert:  Bine beginnt zu weinen. Weint Rotz und Wasser, so dass Manfred spürt, wie es ihm auf der Brust feucht wird.

„Alles gut, alles gut, du, Ronja und ich, wir sind die Familie!“

Bine kann nicht mehr aufhören, zu weinen. Manfred führt sie hinüber nach Sachsenhausen, denn ganz in der Nähe ihres Anwalts steht der Wagen.

 

 

Ronja ist das Kind von Heinz. Jeder kann das sehen. Nur… Heinz ist kein Vater.

Ronja wurde in der Hochzeitsnacht gezeugt. Nur… Heinz ist nicht der Bräutigam.

Bine war damals bei der Hochzeit vollkommen ausgeflippt, so sagt sie selbst. Aber es waren die Verwandten, die sie so sehr verschreckt hatten, diese unzähligen Familienmitglieder von Manfred, und alle so… rechtschaffen. Und alle hatten ihr etwas zu sagen gehabt, gaben ihr Tipps, wie sie Manfred behandeln sollte, was sie tun könnte, um in der neuen Familie anzukommen. Welche Gerichte sie traditionell kochen sollte zu Geburtstagen und Kindstaufen, von denen man viele erwartete.

Bine machte schlapp. Manfred hatte sie nicht gewarnt, oder, vielleicht doch gewarnt, aber für diese Übergriffe hätte er sie vorbereiten, trainieren müssen.

Stattdessen fühlte sich Bine dieser fremden Familie, die sie nun vereinnahmen wollte, ausgesetzt. Um dem zu entfliehen, griff sie nach jedem Glas, das irgendwo herumstand oder gereicht wurde, und ging dann mit.

Mit Schwager Heinz (ja, in dieser Familie hatten anscheinend alle so altmodische Namen, nicht  nur Manfred!).

Sie kann sich nicht einmal erinnern, was Heinz und sie dann gemacht haben, aber ein Blick auf Ronja…

Manfred erklärt jedem, dass Genetik manchmal Sprünge macht, da kann eine Ähnlichkeit mit einem Onkel viel stärker ausfallen, als mit dem leiblichen Vater.

Nur dass Heinz ein angeheirateter Onkel ist. Genetisch nicht verwandt… Aber danach fragt dann keiner mehr.

Als Ronja neun wurde, ging Heinz mit seiner Klempnerei pleite. Alkoholprobleme, Gerichtsverfahren wegen Pfusch, verlorene Aufträge am Bau und schließlich sogar der Reparaturservice, der Beschwerden anhäufte und kein Geld mehr einbrachte.

Manfreds Familie sonderte ihn aus. Kapselte ihn ein, so dass er zu keinem aus der Familie mehr Kontakt aufnehmen konnte, und als das geglückt war, legte man seiner Frau die Scheidung nahe. Die natürlich darauf einging. Denn der Schoß der Familie bot mehr Wärme.

Heinz erinnerte sich daraufhin endlich, dass er eine Tochter hatte. Er begann, Bine zu erpressen.

Manfred hatte sich, nach der unsäglichen Hochzeit, Bine zuliebe von seiner Familie ferngehalten. Nicht gebrochen mit dem Netzwerk. Nein. Aber er hatte auf viele Annehmlichkeiten verzichtet, Jobs abgelehnt, und vor allem war er einfach weggegangen, wenn ihm jemand Tipps zur Eheführung geben wollte. Bine war gar nicht mehr zu Familienfeiern mitgekommen, sie musste sich um Ronja kümmern.

Und plötzlich, nach fast zehn Jahren, stand Heinz vor der Tür.

Wollte Schweigegeld.

Bine verstand nicht, denn sie hatte ja keine Erinnerung, dem Alkohol sei Dank. Verstand doch, denn wenn sie Ronja ansah… Sie fiel in Ohnmacht, überwältigt von den widerstreitenden Gefühlen. Heinz wandte sich ab und ging zurück zu seinem Wagen.

Ronja rief Manfred an: „Mama ist tot!“

Er raste sofort nach Hause.

Tatsächlich lag Bine mitten in der offenen Haustür, inzwischen hatte auch ein Passant, der auf die schluchzende Ronja aufmerksam geworden war, die Rettung gerufen, die gerade jetzt kurz hinter Manfred in die Einfahrt bog. Alles strömte zum Eingang.

Bine öffnete die Augen.

„Lasst mich allein, alle. Ich möchte ins Krankenhaus!“

Ihr Wille geschah.

Sie weinte. Man gab ihr Medikamente, die ihren Nervenzusammenbruch mildern sollten. Aber sie weinte weiter.

Schließlich, am dritten Tag, was der Krankenhausleitung als viel zu spät erschien, denn dieser Fall brachte kein Geld, verlangte sie nach Manfred.

Und obwohl Manfred schon alles wusste, viel besser als sie, denn er kannte sie besser, als sie sich selbst, und hatte sie am Hochzeitstag beobachtet und hatte auch seine Schlüsse gezogen, denn Ronja war – das konnte niemand leugnen – Heinz‘ Tochter – und hatte ihr schon damals verziehen, denn er hatte – er kannte es ja aus eigener Erfahrung – erkannt, dass an allem seine Familie schuld war. All diese Ansprüche fremder Menschen, die er manchmal nicht einmal selbst mehr kannte, an eine junge Frau, die außer ihrer Mutter niemanden vorher zur Seite gehabt hatte. Eine Mutter, die sich am Hochzeitstag direkt nach der Trauung wieder verabschiedet hatte. Weil sie „die Leute da“ nicht mochte. Weil „die das Problem meiner Tochter“ seien.

Manfred hatte das alles gesehen und verstanden. Nicht, weil es ihm selbst so ging. Sondern weil er mit dieser Familie schon so lange gelebt hatte. Weil er selbst von ihnen attackiert wurde. Weil er Ähnliches schon oft beobachtet hatte. – Und weil er gesehen hatte, mit wem seine völlig betrunkene Braut damals verschwunden war. Er erinnerte sich an seine eigenen Abstürze. Machte kein Drama daraus.

Und obwohl also Manfred schon alles wusste, ließ er Bine reden. Es kam aus ihr heraus wie ein Wasserfall, das schlechte Gewissen, ihm nie etwas gesagt zu haben – aber gleichzeitig auch gar nichts mehr zu erinnern. Und ja, die Angst. Die große Angst um Ronja. Die ihn, Manfred, doch so liebte. Die ihn als Vater brauchte. Und dass sie all das doch nicht aufs Spiel setzen konnte.

Manfred hatte sie in die Arme genommen. Ja. Und auch da hatte sie schon geweint, bis sein Pullover nass war.

 

 

Aber hier auf der Brücke, nachdem sie beide den Heinz im Männerwohnheim getroffen hatten, um ihm zu sagen, dass er gerne die Vaterschaft einklagen könne, wenn er denn das Geld dafür habe, aber dass er nie jemanden aus der Familie finden würde, der auch nur einen Atemzug verschwenden würde, um auch nur einen Hauch des Zweifels zu säen, dass Manfred der Vater von Ronja ist – und ja, natürlich wissen alle schon die Wahrheit, aber das wäre ja egal. Er könne klagen. Aber dann müsse er auch Unterhaltszahlungen nachzahlen.

Das hat Heinz tief getroffen. Alles andere hat er mit einem überlegenen Lächeln weggewischt. An Unterhaltszahlungen hat er offensichtlich nicht gedacht.

Wie ein getretener Hund klappt er in sich zusammen.

„Ah, nichts für ungut, ihr wisst doch, wie das ist! … Habt ihr vielleicht eine kleine Gabe, trotzdem, für einen in Not geratenen Verwandten?“

„Hier“, sagt Manfred, „eine Bahnkarte nach Berlin, da wirst du gut klarkommen. Und einen Hunni Taschengeld.“

„Das ist ja nix, wie soll ich damit neu anfangen?“

„Keine Ahnung, ich kann den Hunni auch behalten.“

„Nee, nee, schon gut. Gibt ja sicher ein Restaurant im ICE, das kostet.“

Heinz schnappt sich den Hunderter und die Karte und beginnt, seine Habseligkeiten zusammen zu packen: „In Berlin braucht man sicher ein paar Klempner, ist ja Fachkräftemangel!“

 

 

Bine und Manfred begleiten Heinz noch zum Bahnhof, sehen ihn den ICE besteigen, vorne, beim Restaurant. Sie bleiben am Bahnsteig stehen, bis der Zug sich in Bewegung setzt. Heinz ist fort.

Dann machen sie einen Spaziergang am nördlichen Mainufer, dem Nizzaufer, entlang, das Bine so liebt, queren dann den Fluss und lassen den Anwalt ein Schreiben aufsetzen, dass Ronja keinen anderen Vater hat als Manfred. Der Anwalt versucht ihnen das auszureden, es sei doch nicht mehr notwendig, Manfred sei doch der Vater, qua Hochzeit vor der Geburt rechtens, aber Bine möchte es so und diktiert und Manfred nickt und der Anwalt grübelt, wie er das verrechnen soll…

Und dann gehen sie noch einmal zurück auf die Brücke und blicken auf die kleinen Wellen des Mains, die die Sonne so vielfältig spiegeln. Die Wellen sagen: Alles ist möglich. Alles darf sein. Und in Bine öffnen sich mehr Schleusen, als sie je dachte, zu beherbergen.

Aber Manfred ist ja Kummer gewöhnt.

 

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