Von Kornelia Wulf

Ralf nimmt einen tiefen Schluck aus dem Humpen. Spürt, wie die Hefe sich in seinem Magen ausdehnt. Während er Schaumflöckchen aus dem Barthaar wischt und dieses Geräusch, das in ihm aufsteigt, gewaltsam unterdrückt, bemerkt er die krabbelnden Beinchen nicht. Die freche Wanze – auch Kissing Bug genannt – ein Souvenir der heißen Brasilienreise, beißt in seine Unterlippe – für sie fühlt es sich erotisch an – und verteilt ihr Gift in Mund und Schlund. 

Rechts und links sitzen Berta und Tom. Zu viert wäre ihre Truppe heute vollkommen. Doch der Stuhl Ralf gegenüber bleibt heute leer. An jedem Mittwoch treffen sie sich im Silbernen Schwan. Zum Klönen, Prosten, den ganzen Abend. Und in den ernsten Momenten dazwischen versuchen sie die Karten neu zu mischen. Vor Zeiten, sie fühlen sich ewig an, haben sie sich die Gummikleeblüte genannt. Statt Taufwasser strömten Wodka und Wein. Versuchte man nur ein einzelnes Blatt anzuspannen, zogen sich alle vier eng zusammen.

„Mann, oh, Mann. Ein dicker Hund, diese Sache mit Heinz“, bricht es aus dem Ralf heraus. „Hey, träumst du schon wieder?“ Er kneift in Toms dünnes Schulterfleisch. „Was meinst du dazu?“ Den Kartenstapel fest in der Hand – so seltsam flach fühlt er sich heute an – versucht Tom sich mit der anderen am Kopf zu kratzen. Ein Hindernis schiebt sich vor sein Begehr – das Jucken quält ihn heute sehr – und die Finger prallen ab. An diesem Sperrholzbrett. Er quetscht zwischen den Lippen ein „Mhm“ hervor. Zuckt die wehe Schulter, in der Ralfs Daumendruck noch nachhaltig schmerzt. 

18 – 20 – wie ging das nur weiter? 

Ralf hebt seinen Humpen an. Die Leni vom Schwan hat gerade Nachschub serviert. Braunes Steingut trifft auf zart geblasene Prosecco-Flöte. Verfangen im Hot Gloss Scandalous, das pinkfarben durch das Feinglas schimmert, glaubt er, dass ihn die Sinne trügen, als Bertas Zunge über Lippen gleitend, sich plötzlich an der Spitze spaltet. 

„Alle Achtung“, er prostet ihr zu. „Ein journalistisches Kleinod, dein Artikel im Tagblatt heute.“ 

Kaum merklich lässt Berta die Mundwinkel sinken. Der Ralf schwätzt wieder so behäbig, hält sich tatsächlich für einen verkannten Poeten.

„Ts, ts,“, zischt Ralf, während sein Finger über die erotisch-infizierte Stelle reibt, er gar nicht weiß, was er da treibt und das Gift die Seelenfasern betäubt. „Schrecklich, diese Sache mit dem Heinz. Wie erstaunlich, dass du gleich dort warst. Und der Polizeiwagen, wie ich hörte, kam auch sofort.“

„Effiziente Connections. Die braucht man halt in meiner Branche. Erinnert ihr euch noch an den Schorschi? Aus der 12A? Nein? Der mit dem Aknegewimmel um Mund und Nase.“ Die konziliante Maske fest aufgesetzt, prustet Berta in sich hinein. „Genau. Der! Mit dem hatte ich mal was laufen. Damals, als er noch Streife ging. Echt tough, der Typ. Die Nase immer vorn. Jetzt sitzt er ganz oben in seinem Verein. Freundschaftlich fühlen wir uns noch immer verbunden. Aber vor Allem – professionell. Eine Hand wäscht eben die andere. Ansonsten – aber das bleibt jetzt unter uns – ich sag nur so viel: das mit dem Johannes und seinem Riechorgan – alles Fake.“ Und in ihrer Hirnrinde quillt die Erinnerung auf, an den einen dieser hungrigen Abende. An dem Schorschi auf Bertas Nachttisch die Brieftasche vergaß. Sie in ihr Auto stieg, diese zu ihm brachte. Im Dämmerlicht sah sie ihn vor ihm knien – diesen Hänfling mit Eierschalen – der alle tausend Eide schwor, dass er schon sechzehn sei. 

Ihr Blick gleitet durch die Fensterscheibe, streift das Ocker der Gasthofmauern, die an das Grasgrün des Stadtparks grenzen. Verweilt in dem Rot der Rosenrabatten, zwischen dem der Schlehdorn so üppig wächst, als wolle es ihm die Show stehlen. Auf dem Teich entdeckt Berta ein Wassertier. Es schaukelt einsam auf schwappenden Wellen. Und ihr Kopf wippt im Rhythmus auf und ab, als handele es sich um ein Nickduett. Das Federkleid spannt unter dem Kropf. Meine Güte, Ente, was bist du fett, denkt Berta. Wenn dich der Einsatz zum Platzen ereilt, quakst du: Bereit! Mit Sicherheit. 

Ziellos treiben ihre Gedanken dahin, auf der grauen Fläche, die sich sanft kräuselnd im Abendlicht spiegelt. Immer wieder tauchen sie auf. Aufgedunsen wie eine Leiche, die am Grunde des Sees nicht verweilen mag.  

Abserviert hatte er sie – ein scharfer Schnitt ohne Narkose – vor Monaten, Wochen. Berta weiß es nicht genau. Für sie fühlt es sich wie gestern an. „Das mit uns geht nicht mehr“, sagte Heinz, „du musst das verstehen. Die Hilde braucht mich jetzt sehr.“ Sein Blick pendelte über den Schlafzimmerläufer. Vergeblich versuchte Berta ihn einzufangen. Sie wollte Heinz rütteln, schütteln, ihm die gemeine Zunge rausreißen. Er hatte es doch versprochen. Dass er seine Frau verlassen werde. Dass Berta die Einzige für ihn sei. Doch ihre Glieder nahmen die Konsistenz eines Putzlappens an, das Schmutzwasser nur flüchtig ausgewrungen.

Im Dunkel des Schranks hatte sie nach dem Feldstecher gekramt. Ein Erbstück ihres Vaters. Den drückte er in ihre schmale Hand, als Berta ihn in der Sexta anflehte, sie endlich aus der Schule zu nehmen, weil es da diesen Jungen gab, der sie ewig quälte. Heillos gestört, sagte man später, nachdem er in eine besondere Einrichtung kam.

„Opfer oder Jäger“, so lapidar Vaters Kommentar, „da musst du dich schon entscheiden.“

An manchem Abend zwängt sie sich nun durch den Spalt in der Hecke, den die Sonne in den Schatten stellte. Und geschützt von dichten, schlingenden Ranken – fast hört sie das Müllhäuschen unter ihnen keuchen – stellt Berta die Gläser des Feldstechers scharf. Ignoriert den dünnen, rinnenden Faden, aus dem zarte Speichelblasen wachsen, wenn private Details sich ihr offenbaren.

Erst gestern hockte sie ihn Beobachterstellung. Den Kopf an die gelben Blüten gelehnt, sehnte sie sich chronisch gähnend nach einem Jelängerjelieber Schlaf.

Dann. Dopamin pur. Jetzt. Einen Salto über das Müllhäuschen wagen …

… voll crazy, was sie durch die Flügelfenster in Heinz´ Eigenheim sah.  

Seltsam verkrümmt liegt Hilde da. Die Farbe der Haut graubeige getönt, hebt sich kaum ab vom Weiß des Lakens. Einen Ticken nach rechts, das Okular ächzt. Zweifellos – Bertas Atem tost – so verräterisch das Rot. Kirchhofrosen blühen auf Hildes Wangen. Erst neulich hatte Schorschi von ihnen erzählt. Von den Flecken eines Opfers, schon beinahe tot. Und auch der Heinz steht da. Der Rücken gebeugt über Hildes Brust, das Kopfkissen wie einen Punchingball zwischen den Fäusten.  

Als Berta nach dem Handy langte, ihr bebender Finger die Nummer fand, stand der Schorschi gleich parat.

Connections halt.  

Vielsagend, das Schweigen im Gasthofraum. Nur das Quietschen von Ralfs Nagel, der auf der Platte des Eichentischs schabt. Ach Heinz, sinniert er, ich seh es noch wie heut. Den schwarzen Anzug, das weiße Kleid. Ich habe doch eure Trauung bezeugt. Das mit der Hilde geht wirklich zu weit. Sorry – nimm das jetzt nicht persönlich. Auf meinem Facebook Account ist kein Platz mehr für dich. 

Ja, ja, der Klee. Berta schnauft. Und die Zungenhälften, gespalten nun bis zum Rachen, rollen sich wie Dornen auf. Als könne das Glück aus der Erde wachsen. Nein, nein, das müssen wir schon selber schaffen. Und – schließlich – auch jedes Hosengummi leiert irgendwann aus.

 

Die Karten wirbeln durch die Luft. Herzdame und Bube fallen auf das Kreuz. Und Tom seufzt laut auf. 

Wo bleibt heute nur der Doppelte Kopf?

 

***

Spitze Steinchen knirschen unter den Sohlen. Heinz passiert zügig den Weg im Stadtpark. Er atmet die milde Abendluft, gesättigt vom Rosenrabattenduft. Nicht wie die in der letzten Woche. In Uniform waren sie zu ihm gekommen, haben ihn einfach mitgenommen. Ihn in das blau-weiße Auto verfrachtet – dort schmeckte die Luft so gestreift – und Heinz in das Kommissariat gebracht. Wo er auf den Schorschi traf, der ihn an Ort und Stelle vernahm. An seiner Fassade, spiegelglatt, glitten fast alle Worte ab. Und auf seinem Teint, makellos rein, da fehlte irgendwas! Fritz, sein Anwalt, war auch gekommen und holte sie aus der Akte heraus. Die Patientenverfügung von seiner Hilde, mit Brief und Siegel von ihm beglaubigt. Neben ihm saß dieses sanfte Geschöpf. Der Fritz hatte es gleich mitgebracht. Sie hatte die Sache fachlich begleitet. Die nette Dame von Dignitas. Und die Geste, mit der sie Hilde den Becher anreichte, bestärkte Heinz in seinem Glauben, dass die Engel im Himmel als Servicepersonal tatsächlich weiße Kittel tragen.

„Wozu das Kissen?“, fragte der Schorschi.

„Ich musste die Hilde doch weich betten, auf ihrem Weg, den sie nicht kennt. Schließlich konnte ihr keiner sagen, wohin die Reise geht. Das Kissen stopfte ich unter den Nacken. So empfindlich, diese Stelle, die plagt sie schon seit Jahr und Tag.“

Dass er sie an sich drücken wollte, die Grenzen verwischend ein Ganzes werden, gemeinsam mit ihr die Reise wagend sich von der dunklen Wolke befreien, was die Hilde ihm strengstens verboten hatte,

das hat er dem Schorschi nicht gesagt. 

Nur ein paar Schritte zum Silbernen Schwan. Nie hat der Heinz ein Treffen verpasst, nur dieses eine Mal. Schon sieht er Bertas Cabrio auf dem Parkplatz stehen – der Lack blitzt in der Sonne – alligatorfarben – als er von rechts ein Rascheln hört. Durch die weißen Bitterkleeblüten, die aus dem Sumpf des Teiches kriechen, quält sich ein rundes Wassertier. 

Meine Güte, Ente, was bist du fett, staunt Heinz.

Sie watschelt heran, mit schweren Schritten – hieße sie Berta, würde sie keuchen – eine Karte im Schnabel festgeklemmt. Sie dehnt den Hals, senkt den Kopf – die Wölbung der Brust ist ihr im Weg- als sie das Spielblatt vor Heinz´ Füßen ablegt. Bevor sie konsterniert laut protestiert und sich mit einem „Quaaak“ in der Mitte halbiert. Grün, braun und weiß. Ein Wust aus Federn auf dem gesprengten Entenkleid. Bis sie getragen von den vier Winden in den Cumuluswolken verschwinden.

Heinz hebt die Karte vom Parkweg auf, säubert ihr Bild vom Schotterstaub. Der Schwarze Peter zwinkert ihn vielsagend an.

„So what“, raunt er dann, „nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern.“

 

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