Von Katharina Rieder
„Kuckuck, wo bin ich?“, fragte das kleine Kind das Große und blickte erwartungsvoll auf. Und das große Kind dachte nach. „Glaubst du, dass Dinge einfach nur so passieren, wahllos und ohne Plan?“, wollte das kleine Kind wissen.
Nein, das glaubte das große Kind nicht. „Da bist du doch! Warum sitzen wir uns gegenüber?“, fragte es.
„Du bist einfach gegangen. Du hast mich zurückgelassen. Wie konntest du nur?“ Das kleine Kind wackelte mit den Zehen, das Große schaute betreten zu Boden.
„Ich musste, … konnte es nicht weiter ertragen. Ich wäre beinahe gestorben!“
„Dafür wurde etwas Neues geboren und ich, ich sitze immer noch hier. Hier nah bei dir!“
Das große Kind schluckte, schniefte und es triefte: Aus der Nase auf die bunte Sommerwiese. Eine sanfte Brise bewegte das grüne Gras. Jenes, auf dem das kleine mit dem großen Mädchen saß.
***
Rot, überall rot. Matsch, der zwischen deinen Zehen klebte, reife Kirschen, die an den Ästen hingen. An Ohren baumelnde Zwillinge. Die Sonne stand hoch und brannte auf dich herab. Leuchtendes Licht, das die Dunkelheit brach. Hätte brechen sollen, wie Liebe den Hass oder Honig die Bitterkeit, für die Ewigkeit, Sommerstille – Amen.
„Ich bin dran!“, riefst du, schnapptest das Seil und ranntest auf David zu. Er lief den Hügel hinab, du hechtetest hinterher. Du bekamst ihn auf halber Strecke an den Schultern zu fassen, drücktest ihn zu Boden. Du purzeltest ein Stück mit ihm gemeinsam bergab. Du lachtest. „Hab ich dich!“, töntest du über die schöne Sommerwiese, fühltest dich mächtig wie ein Riese.
Plötzlich stand ER da: Heinz. Er ragte hinter dir auf, wie ein stinkender Bär. Sein Körper überschattete dich. Es wurde kalt, bitterkalt. Du frösteltest, Gänsehaut durch und durch. Furcht machte sich in dir breit. Dafür warst du nicht bereit!
***
„Stopp“, warf das große Kind ein, „Das führt doch zu nichts!“
„Doch, das tut es. Du hast an jenem Tag etwas Wesentliches vergessen!“ Das kleine Kind stand auf und legte seine rechte Hand auf das Herz des großen Kindes.
Das große Kind zitterte. Es spürte den Widerstand, der sich wie ein Schutzwall aufbaute und weiteren Abstand zwischen sich und das kleine Kind brachte. Eine Brise Zimt lag in der Luft, Kindheitsduft und Kaugummilust. Hinter Mastix-Harz, zäh wie Leder, hörte es dumpf das kleine Kind weitersprechen. Fesseln brechen.
***
„Du glaubst wohl, du bist etwas Besonderes?“, fragte Heinz und sah dich mit kleinen zugekniffenen Augen frostig an.
„Ja!“, schrie es in dir und du sahst David nach. Er rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her, und verschwand im Wald.
„Warum bin ich nicht davongelaufen?“, fragst du dich heute, Jahrzehnte später. „Glaubst du etwa, dass Dinge einfach passieren, wahllos und ohne Plan?“
‚Wer sich vor dem bösen Mann? Niemand! Und, wenn er aber kommt? Dann laufen wir davon! Wer fürchtet sich vor dem bösen Mann? Niemand! Wenn er aber …‘
Nur David lief, du bliebst und Heinz packte dich am Nacken. Äste knackten. Du spürtest seinen festen Druck. Rau und unnachgiebig zerrte er dich zum Stamm des Baumes. Kirschen drückten sich in die Hohlräume deiner Zehen, verfärbten sie rot. Nahe dem Tod!
„Jetzt zeig ich dir, was böse Buben mit ungezogenen Mädchen machen!“
Du spürtest die Enge um deine Brust, das Seil, das dir die Luft abdrückte. Dir schwindelte, dein Herz raste, du schwitztest, hyperventiliertest, schwebtest … plötzlich über allem. Du bebtest.
***
„Kuckuck! Wo bin ich?“, fragte das kleine Kind das große Kind erneut.
„Du bist da unten und ich, ich bin hier oben!“, antwortete das große Kind und drehte den Kopf ab.
„Kalt! Ganz kalt! Also, wo bin ich?“ Die Stimme des kleinen Kindes schrillte.
Das große Kind spürte Wut in sich aufkeimen.
„Wo bin ich? Ich bin ich, du bist du, Müllers Kuh!“, schrie das kleine Kind.
Das große Kind schaute auf das kleine Kind, sah wie es … sah, wie es die Hand hilfesuchend ausstreckte. Ihre Fingerspitzen berührten sich. Das kleine Kind schlüpfte in das große Kind und dieses fand sich noch einmal in dieser Enge, barfuß auf dem Dornenweg. Heinz ließ von dem Kind ab, verschwand. Das Seil lag am Boden. Es färbte sich rot und irgendetwas ganz tief drinnen war tot.
„Kuckuck!“, ruft es aus dem kleinen Kind.
„Kuckuck, wir sind immer noch hier! Hier, als gemeinsames WIR!“
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