von Bernd Kleber

 

 

 

Sonia eilte an der Hand ihrer Mutter dem U-Bahn-Eingang entgegen. Es war kurz vor sechs. Sie beeilten sich.

Unter ihrem Arm, in der Tasche, trug sie auch das Schulheft, indem der Text war, den sie sich erdacht hatte und der heute zu dem großen Tag führen sollte. Sie und ihre Freunde führten ein Theaterstück auf. Mit Gesang und Tanz, mit Akrobatik und Breakdance.

Ja, der Breakdance kam ganz am Ende dazu, als sie ihr Bühnenwerk fast fertig gestellt hatte. An dem Tag, als sie Vadim getroffen hatte. Getroffen war jetzt das falsche Wort, dachte sie, denn eigentlich hatte sie ihn an der Ecke der Kreuzung gesehen, als er dort tanzte und sprang und sich drehte wie ein Mensch von einem anderen Stern. Seine Kumpel vollführten dazu diese coole Beatbox, ihre Hände geballt vor dem Mund zum Verstärken der Töne und Bässe. So erzeugten sie einen extrem überzeugenden Bassbeat und melodischen Rhythmus, konventionellen Instrumenten zum Verwechseln ähnlich. Vadim drehte sich dabei wie ein Wirbelwind und sprang aus einer Brücke in die Beuge und zurück. Die Menschen, die in einer kleinen Gruppe bei ihm standen, klatschten im Takt. Sonias Augen hatten geleuchtet wie der passende Spot dazu, ihr Atem war auf einmal schwer gegangen und ihr Herz pochte wie ein stampfender Elefant in ihrer Brust. Als die Vorführung zu Ende war, stoppte Vadim vor Sonias Füßen, sprang auf und gab ihr einen Kuss auf die Wange, der so gebrannt hatte, dass sie an einen Phönix dachte, erinnerte sich Sonia.

Später fragte sie Vadim auf der Bank, ob er nicht in ihrem Theaterstück diesen Tanz mit der Unterstützung seiner Freunde aufführen wolle und erzählte, wovon ihr Stück handelte. Die Bewohner eines fernen Planeten griffen einen benachbarten Himmelskörper an, es gab Krieg und nur durch die Kraft des Glaubens und der Hoffnung und die überzeugenden Worte in einem großen Tribunal der Bevölkerung, kam es zu Frieden. Denn man erkannte, dass man gar keine Feindschaft brauche im Leben, sondern Liebe das Einzige war, was die Menschheit glücklich zusammenhalte. Vadim hatte gelacht und gemeint, wenn überall Liebe wäre, gäbe es ja gar keine Scheidungen mehr. Er erzählte von seinen Eltern, die sich erst getrennt hatten, und dann hatte er seinen Vater für immer verloren. Und außerdem meinte er, sei der Abschlusssong voll uncool. Niemand könne behaupten, dass Glauben die Kraft habe zu retten. Und die Musik passe so gar nicht zu seinem Style.

Aber Sonia hatte sich nicht verunsichern lassen, baute sich vor Vadim auf und sang ihm den Song, so schön sie konnte. Dabei entging ihr nicht, dass Vadim sehr berührt war, auch wenn er sich plötzlich die Hände vors Gesicht schlug und so tat, als würde er lachen. Sie hatte nach Beendigung des Liedes seine Hände ergriffen und sein Angesicht aus der Deckung geholt, ihm tief in die dunklen Augen gesehen. Sie sprach von Liebe und Zuversicht, die nur das Warme im Herzen beschreibe und unabhängig existiere von festen Bindungen und dem Erzeugen von Kindern. Vadim lauschte ihr und hielt ihrem Blick stand. Dann hatte er ihr versprochen mitzumachen, wollte jedoch beim Abschlusslied einfach ruhig sein.

Das war alles vor einigen Wochen geschehen, bis heute hatten sie jeden Abend geübt und getanzt, an der Choreographie gearbeitet und das Lied einstudiert, welches am Ende des Stückes vom Ensemble dieser Nachbarschaftskinder gesungen werden sollte.

Sie saß nun mit ihrer Mutter auf der Bank des Bahnsteiges und las erneut in dem Schulheft. Im Verlauf erhob sie kurz den Kopf, atmete durch, hoffte, dass alle anderen ihre Texte später auch beherrschen würden. In dem kleinen Beutel, den ihre Mam in der Hand hielt, war ihr Kostüm. Sie würde den Engel des Lichtes spielen und ihre Ma hatte das Gewand dazu aus einem alten Gardinen-Store genäht.

Das Licht flackerte, Sonia schaute auf. Aber es war nur eine kurze Störung. Sofort las sie weiter und murmelte vor sich hin. Ihre Mama lächelte und strich ihr über den Rücken. „Bist du sehr aufgeregt, meine Zuckerpuppe?“, fragte sie in sanftem Ton.

Sonia seufzte und lehnte sich an ihre Mutter, blickte die Bahnsteigkante entlang.

Später trafen sich alle Freunde wie verabredet. Quer zwischen zwei Wänden hatten sie einen Vorhang gespannt. Auch der war selbstgemacht, aus einem Wandteppich mit einem Waldmotiv.

Klara schlug den Gong, der aus dem Esszimmer ihrer Eltern stammte, dreimal. Es wurde still auf beiden Seiten des Teppichs. Der Klang der schwingenden Metallscheibe schwebte wabernd, wie eine Seifenblase kurz vor dem Zerplatzen, durch den Raum.

Dann schob Ludi den Vorhang auf und es begann. Sonia betätigte die Taste auf dem CD-Player und die Musik schallte durch die hohe Halle. Sie hatten alle Musikstücke auf einer CD zusammengeschnitten. Sonias Onkel hatte dabei geholfen.

Sie sangen, tanzten, spielten, rezitierten und wirbelten umeinander. Sie sprangen, jubilierten, flüsterten, hockten, rollten sich über den Bühnenboden.

Immer wieder fügte sich alles wunderbar zusammen im Ablauf, jeder der Gruppe hatte vorbildlich einstudiert. Musik und Tanz und Spiel. Alles klappte ausgezeichnet. Das Publikum aus Eltern, Geschwistern, Großeltern, Verwandten, Lehrern, Gästen hielt den Atem an, gespannte Atmosphäre.

Nun kam Vadim und seine Gang, die sofort die Beatbox starteten, Sonia stoppte die CD und stellte sich an den Bühnenrand. Vadim wirbelte wie eine Windrose über den Boden…

… Power, Toprocking, Styles und Freeze aus den Elementen des b-boying. Sonia hielt die Luft an.

Vadim erhob sich und steppte auf Sonia zu. Ihr Herz polterte wie eine fallengelassene unzerstörbare Kaffeetasse auf einer Steintreppe. Vadim griff ihren Arm und zog sie auf die Bühne, das Publikum klatschte nun im Takt zum Beatboxing der Gang und einige der Zuschauer riefen nun etwas, Pfiffe erschallten.

Sonia registrierte, wie Hitze in ihr Gesicht stieg, aber sie improvisierte und tanzte im Takt um Vadim herum. Bald riss sie sich jedoch los und eilte hinter die Bühne, das Abschlusslied musste nun gestartet werden.

Sie betätigte die Taste des Players, ein Knistern klang aus den Lautsprechern und ein Metronom war zu hören, das Zeichen, dass alle Cast-Mitglieder sich auf der Bühne zu versammeln hatten. Sonia eilte zu Vadim, ergriff seine Hand und jeder der vierzehn Jugendlichen und Kinder griff die Hand des Nächsten. Wie eine Kette standen sie da am Bühnenrand, ein Element.

Das Metronom verstummte und getragene ruhige Musik aus Orgel und Cello erklang, die Gruppe setze mit ihrem Gesang ein. Sie sangen konzentriert, getragen und bewegt. Die Stimmen der Mädchen erklommen klarste Höhen, die Jungen hielten ihren Bariton. Jede einzelne Silbe des Textes klang durch den weiten Raum wie ein neuer Schmetterling auf dem Weg ins Licht. Sonia beobachtete wie die ersten Zuschauer sich erhoben, vom Boden, von den Matratzen, von den Bänken, von den Schlafstätten der Nacht, ihres Schutzraumes von sechs bis sechs, ihrer Heimat in diesen Tagen. Und sie griffen ebenfalls die Hände der Nachbarn oder legten eine Hand auf die Brust, stimmten in das Lied ein. Nun hörte Sonia neben sich den klaren Bass Vadims erklingen, der jede Zeile, jeden Ton leidenschaftlich mitsang.

Eine Welle des Chores, wie ein warmer Strahl Zuversicht, durchströmte alle, und schwoll über den Bahnsteig der Station „Prospekt Gagarina“ in Charkiw, flog über die Gleisbetten, verhallte auf dem Weg zur nächsten Haltestelle im Untergrund und ließ Augen leuchten. Sie sangen in ihrer U-Bahnstation, ihrer Heimat der Nacht:

Боже, Україну храни. Дай нам сили, віри, надіі. Отче наш. …

(Bozhe, Ukrayinu khrany. Day nam syly, viry, nadii. Otche nash. … /

Herr, schütze die Ukraine. Gib uns Kraft, Glauben und Hoffnung. Vater unser. …)

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„Zeichen für Frieden“ – Valentin Silvestrov (*1937) komponierte 2014 anlässlich der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und den sezessionistischen Bewegungen im Osten der Ukraine, die in einem bewaffneten Konflikt eskalierten, sein „Gebet für die Ukraine“. Vor dem russischen Angriffskrieg 2022 floh er aus Kiew nach Berlin.

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