Von Ingo Pietsch

 

Zehn Minuten, bis das Fußball-WM-Endspiel begann. Nach langen Jahren die Revanche für Brasilien gegen Deutschland.

Im Fernsehen wurde gerade die deutsche Nationalhymne gespielt.

Während die Kamera an den Spielern vorbeifuhr, sangen sie mit, taten einfach nur, oder sangen, aufgrund ihrer Lippenbewegungen, etwas völlig anderes.

Hoffentlich spielten sie diesmal besser, als sie sangen. Nur mit Mühe hatten sie es in das Finale geschafft.

Vor mir auf dem Sofatisch standen Orangenlimo, Party-Nüsse und Chips.

Rita, meine Verlobte, hatte mir für heute Abend quasi frei gegeben, war mit ihrer besten Freundin unterwegs und würde wahrscheinlich erst sehr spät wiederkommen.

Ich lehnte mich entspannt zurück, als es plötzlich an der Tür klingelte.

Wütend pfefferte ich die Fernbedienung in die Kissen und marschierte zur Tür. Ein Blick durch den Spion verriet mir, dass es Britta war, Ritas zweitbeste Freundin und eine wahre Klette.

Die würde so lange klingeln, bis ich öffnete.

Ich griff nach meiner Jacke und zog sie gleichzeitig an, während ich die Tür aufzog.

„Hi, Britta! Sorry, aber ich muss noch mal schnell los, hab was vergessen.“

Sie blockierte mir den Weg und schaute an mir vorbei. „Echt?“, sagte sie völlig verheult. „Und du lässt den Fernseher laufen?“

Boah, gleich ging das Spiel los.

„Kann ich mitkommen?“, fragte sie leise.

Wut stieg in mir hoch: „Was willst du?“

„Wir drei haben uns gestritten und Rita hat mich weggeschickt.“

Ist ja nichts Neues, dachte ich.

„Und warum bist du jetzt hier?“, wollte ich wissen.

Ich hörte, wie der Kommentator die Aufstellung der Mannschaften verlas.

Britta hörte auf zu schluchzen und meinte mit festerer Stimme: „Vielleicht kannst du ja noch mal mit ihr reden“. Sie blickte mich mit großen Kulleraugen an, dass es mir fast das Herz erweichte.

„Ich, äh, werd` zusehn`, äh, was ich machen kann“, stammelte ich.

„Oh, vielen Dank!“ Sie umarmte mich und drückte ihr Malen-nach-Zahlen-völlig-überschminkt-Gesicht in meinen Hoody.

Ich glaubte ein fettes Schmatzen zu hören, als ihr Gesicht sich von meinem Oberteil löste.

Ich blickte über meine Schulter. Die Münze wurde geworfen.

„Darf ich noch reinkom-“

„Nein“, ich knallte die Tür nur Millimeter vor ihrer Nase zu.

„Trotzdem noch mal danke!“, klang es dumpf von der anderen Seite.

Ich schloss die Augen, schüttelte den Kopf und holte tief Luft. Dann hastete ich wieder zum Sofa und erlebte gerade noch den Anpfiff.

 

Das weitere Spiel verlief ohne irgendwelche Höhepunkte, weil die Mannschaften auf Zeit spielten und es eigentlich nur uninteressante Pässe gab.

Kurz vor der ersten Halbzeitpause foulten die Brasilianer und es gab ein Elfmeter für Deutschland.

Wieder klingelte es.

Nein, ausgerechnet jetzt!

Ich ignorierte das Klingeln.

Oder zumindest versuchte ich es, da sich der Knopf anscheinend verklemmt hatte und auf Dauerbetrieb stand.

Der Schuss ging weit übers Tor hinaus und ich eilte mit vor Zorn gerötetem Kopf zur Quelle des Lärms.

Ich riss die Tür auf und da stand ein Typ vom Paket Dienst Deutschland.

Kaugummi kauend starrte der Lieferant türkischer Abstammung Löcher in die Luft und versenkte den Klingelknopf quasi in der Wand.

Er nahm mich überhaupt nicht wahr.

Erst als ich seine Hand von der Klingel wegzog, kam Leben in ihn.

Er zog einen Bluetooth-Kopfhörer aus seinem Ohr, dass ich mithören konnte.

„Tschulligung, bisschen laut. Du nimmst an Paket für Nachbarn!? Ist nicht da und letzter Kunde auf Tournee.“

Der PDD-Typ überreichte mir das Versandstück und meinte, ehe ich irgendetwas erwidern konnte: „Habe schon für dich unterschrieben. Tschüss!“

Auf dem Paket lag noch die Kopie des Abholzettels: Abgegeben bei Nachbarn mit Namen Bitte-keine-Werbung.

 

Nach der Pause ging es richtig rund. Sehr viele Tor-Chancen auf beiden Seiten.

Gerade, als es wieder spannend wurde, klingelte es erneut und wieder und wieder und wieder.

Ich sprang auf und wollte die Klingel jetzt ausschalten.

Das war doch nicht mehr normal. Alle paar Monate hatte ich mal einen Abend für mich.

Und dann das.

Ich blickte lieber vorher durchs Guckloch: Oh Mist, eine Polizistin.

Ich straffte meine Kleidung und versuchte so normal wie möglich die Tür zu öffnen.

Durchs ganze Treppenhaus donnerte der unaufhörliche Beat von irgendeiner Technomusik.

Die Jungs im Dachgeschoss hatten einen Zettel an den Briefkasten gehängt, dass die Party, die sie gaben, etwas lauter und länger werden würde.

Aber nicht, dass die da oben einen Presslufthammer hatten, um damit den Putz von den Wänden zu meißeln.

„Ich wurde gerufen, weil es ein Ärgernis gibt!?“, fragte die Polizistin betont tuntig, streichelte mit einem Paar Handschellen ihre Wange und leckte dabei über das Metall.

Ich musterte die Gesetzeshüterin von unten bis oben. M/W/D trug Highheels, Netzstrumpfhosen, einen schwarzen Leder-Mini-Rock und über der Taille eine täuschend echte Uniform.

Auf dem Namensschild stand: Po-Lisa.

„Oh ja, das war ich. Und ich war sehr böse. Ich weiß immer noch nicht, in welchen Müll die Papier-Baguette-Tüten mit Plastik-Sichtfenster kommen.“ Ich hielt meine Hände vor, damit Er/Sie/Es mir Handschellen anlegen konnte.

„Ich bin hier falsch? Oder?“, fragte mein Gegenüber mit tiefer, männlicher und ernster Stimme.

„Wo wollten Sie denn hin?“

„Wohnung 14.“

Ich zeigte noch oben: „Hier ist die 4. Immer dem Lärm nach.“

„Danke.“ Die falsche Polizistin tippte an ihre Schirmmütze und stöckelte die Treppe hoch.

Es wurde mit einem Mal leiser.

Auf der anderen Flurseite ging eine Wohnungstür auf und Frau Kneifel erschien mit ihrem Rollator und im Morgenmantel im Rahmen.

„Ich habe die Polizei gerufen. Ich bin ein Fuchs!“

„Da bin ich froh, dass die Polizei beim WM-Endspiel wegen Lärmbelästigung so schnell ausgerückt ist“, erwiderte ich ironisch und zeigte ihr einen Daumen-Hoch.

Sie grinste mich verschmitzt an, zwinkerte mir zu und verschwand wieder in ihrer Wohnung.

Gerade als wir unser Gespräch beendet hatten, begann wieder das Dauerfeuer der Kanonenschläge.

Beinahe hätte ich das Fußballspiel vergessen. Ich hechtete aufs Sofa.

Die letzten 5 Minuten hatten begonnen.

Der Ball flog an die Latte des brasilianischen Tores.

Mein Herz schlug bis zum Hals.

Es gab ein wildes Durcheinander.

Und dann erscholl aus der ganzen Stadt ein Jubel, bevor ich sehen konnte, dass der Ball im Tor war.

Verdammtes Satellitenfernsehen. Immer eine Zehntelsekunde schneller.

Ich ließ mich in die Kissen sinken.

Die Freude war mir vergangen.

Ich räumte noch die Knabbersachen weg, als es erneut läutete.

Rita und ihre Freundin waren zurück.

Ich nahm ihnen die Handtaschen ab.

Sie stützten sich gegenseitig und hatten den Schlüssel nicht mehr ins Schloss bekommen.

Die beiden sahen so aus, wie ich mich fühlte. Bleich und völlig am Ende.

Ritas Freundin kippte um, rutschte an der Wand entlang und zerquetschte dabei das PDD-Paket und Rita kotzte auf meine neuen Sneaker.

In Gedanken hörte ich, während ich die Augen verdrehte: Ding-Dong, Ding-Dong, wer steht dort vor der Tür? Es ist der Weihnachtsmann, bringt Geschenke dir …

 

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