Von Sabine Rickert                                  

                                    

Ich stehe entspannt mit geradem Rücken, die Knie leicht angebeugt. Konzentration, einatmen, anvisieren, Luft anhalten, vorsichtig den Abzug betätigen, die Stellung zwei Sekunden halten, dann ausatmen und entspannen. Es wird besser, eine Zehn und noch eine. Doch meine Gedanken schweifen ab. Ich stelle mir vor, ich bin Quigley der Australier und treffe in zweihundert Meter Entfernung eine leere Wasserflasche. Hihi, die Munition schafft nicht einmal ein Zehntel des Weges, ich wäre gezwungen sie zum Ziel zu tragen.

Das war nicht hilfreich, schon wieder eine Neun. Es ist wichtig, dass die Gedanken schweigen. Mein Focus sollte möglichst auf das Schießen gerichtet sein. Meditation ist gar nicht so leicht. Die Gedankenspirale ist heute schwer zu stoppen. Ich überlege, wofür ich persönlich mit meiner Waffe eintreten würde. Gegen Rassismus, Sexismus, Kannibalismus. Für Frieden, Gleichberechtigung der Geschlechter, Frauenquote, mehr Alkohol am Arbeitsplatz oder für die Neuansiedlung des Birkhuhns in Nordrhein-Westfalen? Das ist mit Waffengewalt alles surreal. Don Quijote* hat nicht lange überlegt, der ist einfach losgezogen.

I am I, Don Quijote

The Lord of La Mancha

My destiny calls and I go …

Das pusht mich jetzt aber. Mal sehen, wohin das führt.

Ich schiebe den nächsten Papierstreifen ein und ermahne mich zu höherer Konzentration. Flupp, eine Acht. Das ist übel! Das versaut mir den Durchschnitt. So funktioniert das nicht. Keine Phantasievorstellungen im Training, sonst hab ich schon verloren.

Meine Gedanken laufen trotzdem wieder spazieren, ich habe es heute nicht im Griff. Das Lied geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Es entwickelt sich zum Ohrwurm. Ich liebe dieses Musical.

Das Schicksal ruft und ich geh …. Wohin?

Ich stelle mir weiterhin die Frage, für was ICH kämpfen möchte?

Don Quijote kämpfte gegen Unrecht und für Ruhm und Ehre.  Ich hätte die Möglichkeit, für mehr Akzeptanz als Schützin in der Männerdomäne unseres Vereins einzutreten. Einen gewissen Ruf habe ich mir beim letzten Weihnachtsschießen  schon erkämpft. Da lag ich von morgens zehn Uhr bis nachmittags um vier einsam an der Spitze, wurde dann fraglos um vier Uhr eins von einem Schützenbruder vom Thron gestoßen. Die Männerwelt atmete erleichtert auf, und ich nahm die Urkunde für den zweiten Platz in Empfang. Aber immerhin, ich war lange Zeit weit vorn und brachte sie zum Zittern. Bevor ich zur Preisverleihung stiefelte, flüsterte mir mein Mann zu: „Nimm das Grillthermometer“. Nee, so sieht keine Selbstbestimmung aus. Ich hatte den Preis verdient durch Ruhm und Ehre. Ich nahm den Eierkocher.

To dream the impossible dream

To fight the unbeatable foe

To Bear with unbearable sorrow …

Ja Kummer werde ich haben, wenn ich so unkonzentriert weiterschieße. Bald sind die Rundenwettkämpfe und die Bezirksmeisterschaften. Ich wäre gut beraten meine Phantasie zum Stillstand zu bringen und den Tatsachen ins Auge zu sehen.

Ich habe nur ein Luftgewehr und bin Schützin in einem Schützenverein, keine Freiheitskämpferin. Außerdem gehöre ich zu den Seniorinnen II. Dahin kommt man ohne Ruhm und Ehre, schlicht und ergreifend nur durch sein hohes Alter.

Weder habe ich eine Rosinante, noch wäre ich in der Lage mir mein Auflagenluftgewehr über die Schulter zu werfen, es wiegt über fünf Kilo und ist aus Metall mit fiesen scharfen Kanten. Man könnte damit jemanden verhauen, es ist ja recht schwer. Aber wozu? Prinzen, die gerettet werden müssten, laufen im Verein nicht herum und sonst? Wofür wollte ich nochmal eintreten? Für die Zunahme der Frauenquote im Schützenverein? Ich habe dies schon ohne Gewalt veranlasst, indem ich das Eintrittsformular unterschrieben habe.

Für mehr Akzeptanz als Frau sorgen meine Wertungen bei den Wettkämpfen, denn mein Allgemeinwissen über Waffen und Regeln lässt zu wünschen übrig. Da bin ich in der Männerwelt nicht der optimale Gesprächspartner. Dafür wäre ich gezwungen mich mit Optik zu befassen. Das wird in diesem Leben nicht mehr geschehen. Ich habe etwas Ahnung, zum Beispiel was Ringkorn und Diopter sind. Ich nenne die Munition nicht mehr Kugeln, sondern Diabolos und bin mittlerweile dazu in der Lage, die Kartusche des Luftgewehres ohne fremde Hilfe mit genügend Luft zu befüllen (hat lange gedauert). Eine traurige Gestalt, wie Don Quijote. Aber ich versuche erst gar nicht gegen die Windmühlen, in meinem Fall die Optik, zu kämpfen. So irre bin ich nicht. Ich lebe hauptsächlich in der Realität, eher wie Sancho Panza.

Beim nächsten Weihnachtsschießen erkämpfe ich für meinen lieben Mann das gewünschte Grillthermometer, ich werde Ritter und Dulcinea gleichzeitig sein. Alles ist heutzutage möglich!

Welcher Mann kann vorgeben,

das Rätsel im Verstand einer Frau zu kennen.

Miguel de Cervantes Saavedra

Don Quixote

V2

*Schreibweisen: Don Quixote, Don Quijote, Don Quichotte