von Anne Klisch


Manchmal habe ich diese impulsiven Gedanken. Sie reichen von einfach und unproblematisch, bis absolut katastrophal.
Dem Kollegen einfach einmal über den Mund fahren. Halt‘ die Klappe, denke ich. Sag‘s aber nicht. Nach dem Aufwärmen beim Klettern ziehen alle ihre Gurte an, mein Kopf sagt, zieh doch stattdessen einfach die Hose aus.
Einfach noch einen Schritt nach vorne machen, wenn der Bus an die Haltestelle heranfährt. Oder das Handy von der Brücke werfen.
Meistens erschrecken mich diese Gedanken. Wo kommt das bloß her? Was wenn ich den Gedanken nicht als fehlerhaft ausmachen könnte und all diese wirren Dinge tatsächlich täte? Wie gefährlich das ist und wie teuer das werden könnte!
Und so kam mir der Gedanke, ein paar dieser Dinge einfach einmal umzusetzen, um zu sehen was passiert. Welche Konsequenzen daraus entstehen.
Vielleicht nicht beim Gedanken an die Hose, den Bus oder das Handy, aber ich könnte einfach für eine Weile tatsächlich meinen Kopf an die Schulter meines Schwarms lehnen, oder mal sagen ‚Hey Wow, das Kleid steht dir richtig gut.‘ ‚Schöne Frisur.‘ Vielleicht auch ein paar Teller runter werfen, oder mal einen Löffel in der Waschmaschine mit waschen.
Einfach mal sehen, wo mich das hinführt. Loslassen. Nicht so viel nachdenken. Nicht so viel in Frage stellen. Nicht so viel Angst haben.

Und so kam es dann gestern, dass ich in der Küche in einem Haufen aus Scherben stand, weil ich, impulsiv denkend, das halbe Geschirrregal auf den Boden geschmettert hatte. Nicht meine beste Idee. Aber meine war es ja auch eigentlich gar nicht gewesen. Und so konnte ich einfach nur die Achseln zucken und suchte mir eine Kehrschaufel.
Abends hatte mich dann meine Freundin Thea auf eine Feier eingeladen. Grundsätzlich bin ich nicht so der Party-Typ, meistens kam mir bei größeren Gruppen nämlich eine Panikattacke dazwischen, aber meinem Experiment entgegenkommend ließ ich los, schluckte die Wiederworte herunter und sagte zu.
Es war warm und die Feiernden wollten von Bar zu Bar ziehen und vielleicht auch in einer Disco landen. Also zog ich mir das kurze dunkelblaue Kleid und ein paar Highheels mit Riemchen an und stakste los. Ich war mir sicher, dass das Event und meine Kleidung eine ganze Menge Begegnungen und damit spontane Gedanken auslösen würde. Zufällig gutes Futter für mein Experiment. Ich musste grinsen und schließlich schlich sich doch eine gewisse Vorfreude ein.
Um 20 Uhr stand ich in einer großen Gruppe vor einer Bar, die sich bis in den zweiten Stock hinauf ausdehnte. Von drinnen dröhnte laute Musik heraus und Menschen kamen und gingen fließend. Das zweite Bier in der rechten Hand und einen seltsamen klebrigen Cocktail in der linken, stand ich am Bordstein. Steif wie Brokkoli hielt ich mich an den zwei Getränken fest und versuchte mich nicht total unwohl zu fühlen. Ich kannte niemanden außer Thea, die, bereits betrunken, mit einem der Typen auf der Straße tanzte. Bunte Lichter glitten über die vielen Gesichter mit verstrubbelten Haaren und freizügiger Kleidung. Unschlüssig starrte ich auf meine
Hände, ich wusste nicht, was ich zuerst trinken sollte. Bier schmeckte mir eigentlich gar nicht. Dann lass doch einfach los, schlug mein Kopf vor. Einen Moment lang stockte ich. Vielleicht war das keine so gute Idee. Zuhause war das einfach mein Problem, aber so in der Öffentlichkeit? Komm schon, sagte mein Kopf. Wie in Trance beobachtete ich, wie sich meine Hand öffnete und die kleine braune Flasche in Zeitlupe nach unten glitt. Es klirrte laut, doch über die Musik war nichts zu hören. Bier und Scherben splitterten in alle Richtungen. Die, die am dichtesten bei mir standen, sahen kurz erschrocken herüber. Doch niemand reagiere. Nicht wirklich. Bierflasche auf dem Boden. Kein Problem, Party geht weiter. Das Leben hält schließlich auch nicht an. Verwirrt sah ich mich um, doch es störte sich tatsächlich niemand daran. Die Gesellschaft hatte kein Problem mit Spontanität und Impuls gesteuertem Verhalten. Kein Problem mit zerbrochenen Flaschen. Wie schon am Mittag zuckte ich also nur die Schultern. Ich stellte meinen Cocktail ebenfalls auf einem imaginären Tischchen ab und drehte mich um. Das Klirren des zweiten Glases bekam ich nicht einmal mehr mit. Weg war die Angst. Heute Abend war alles möglich.


Ich drängte mich durch die dichte Menschenmasse hinein in die Bar. Die Musik dröhnte und die Luft war seltsam stickig. Ich spürte, wie mein Unwohlsein wieder bei meinem Bewusstsein anklopfte. War es hier nicht viel zu voll? Viel zu eng? Wo waren die Fluchtwege, was wenn etwas Feuer fing? Keine Zeit dafür. Heute Abend war ich frei.
Ich drängte mich durch die Masse nach oben, versuchte die Musik hereinzulassen und begann mich im Rhythmus zu wiegen.

„Hey“, sagte plötzlich eine Stimme hinter mir. Sie klang dumpf und weit entfernt, weil der
ganze Raum vor Geräuschen bereits überquoll. Doch es war nicht mein eigener Kopf. Hinter mir stand ein Typ. Vielleicht 27, gestyltes aschblondes Haar und dunkle Augen. Er nickte mir zu. Ich lächelte. Ich konnte sehen wie sich seine Lippen bewegten, doch dieses Mal gingen die Worte tatsächlich unter. Küss ihn, sagte mein Kopf. Aber er stinkt nach Bier, dachte ich. Egal. Du siehst ihn ja nie wieder. Ergeben zuckte ich die Achseln und lehnte mich nach vorne. Er war kurz überrascht, als ich meine Lippen auf seine presste, doch es schien ihn nicht zu stören. Kein Problem, Party geht weiter. Und jetzt gerade machte sie sogar richtig Spaß.
Ich erinnere mich nicht mehr, wie lange wir da so standen. Ineinander verknäuelt wie der ganze Rest hier auch. Der Bass dröhnte in meinen Ohren. Ich fühlte das Summen und Brummen unter der Haut und in meinen Muskeln. Atemlos zog ich mich zurück. Der hübsche Fremde hielt mich fest und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Augen waren glasig und seine Wangen gerötet. „Ach so eine bist du“, brüllte er mir, über die Musik hinweg, entgegen. Ich grinste wieder. Ja, heute schon.

„Willst du was trinken?“ Ich nickte. Noch mehr Gläser zum fallen lassen, dachte ich. Er grinste, dann zog er mich an der Hand durch die dichte Menge die Treppe hinauf. Mein Kopf fuhr Karussell, doch mein Herz hüpfte. Tausend Gefühle tummelten sich in meinem Bauch. Das macht Spaß, sagte die eine Hälfte, und lehnte sich an das Gefühl der warmen Hand in meiner. Die andere Hälfte meinte: nichts wie raus hier. Zu viele Menschen, zu laut, zu eng, zu stickig. Zu wenig Sauerstoff, zu dunkel und so fremd. Ich spürte plötzlich das unruhige Zittern in meinen Knien. Das mulmige Gefühl in meinem Bauch stieg in meinen Kopf. Es war wirklich zu eng
hier. Und zu dunkel. Und zu stickig. Wo war bloß der Ausgang hin verschwunden? Ich versuchte mich in das angenehme Gefühl hineinzulehnen, dass die fremde Hand an meinen Fingern auslöste. Sicherheit. Ich atmete tief durch. Zählte bis drei. Jetzt bloß keine Panikattacke bekommen.

„Hier“, sagte der Fremde dicht an meinem Gesicht und drückte mir lächelnd ein Glas in die Hand. Was ist das, dachte ich. Was ist da drin? Macht mich das gefügig oder bringt es mich um?

„Limo“, rief der Fremde über die Musik, als hätte er meine Gedanken gelesen. Ich lächelte zittrig. Meine Stimmung war so schnell in den Keller gerauscht, wie der Droptower am Oktoberfest. Der Fremde sah mich forschend an. Er wirkte nicht so, als hätte er vor mich hier einfach stehen zu lassen. Das war nett. Ungeachtet seiner Blicke drückte ich mir das Glas an die Stirn. Kaltes Kondenswasser lief über meine Haut und kühlte mein überhitztes Gesicht. Die Musik dröhnte unangenehm in meinen Ohren. Die vielen Gesichter und Körper um mich herum verschmolzen mit dem bunten Licht. Bewegungen verwischten zu einem einzigen grauen Klumpen, wie moderne Kunst im Museum. Jemand rempelte mich an und ich erschrak, als sich plötzlich eine Hand an meine Schulter legte. Klebrige Limonade schwappte über meine Finger.

„Alles okay bei dir?“ Der Fremde hielt mich an den Schultern, der Boden schwankte. Ich musste dringend raus hier. Die Treppe lag hinter uns, und der Ausgang war zwei Stockwerke weiter unten. Das schaffte ich nie im Leben, bevor mir der Kreislauf abhanden kam. Aber das Leben hielt nun mal nicht an. Spring aus dem Fenster, sagte mein Kopf. Die Worte klangen so laut und klar, dass sie das Dröhnen und Summen des Raums vollkommen überdeckten. Das Fenster war nur zwei Schritte entfernt. Zwei Stockwerke. Das war eine ganz dumme Idee. Das war der Bus Impuls, das fallende Handy. Der kürzeste Weg.

„Kannst du kurz mein Glas halten, während ich aus dem Fenster springe?“
Der Fremde lachte, froh, dass ich endlich eine Reaktion gezeigt hatte. Doch als er wieder in meine Augen sah, fiel ihm beinahe das Gesicht herunter. „Bist du verrückt!“

„Nein“, Sagte ich und drückte ihm die Limo in die Hand. Die Entscheidung war gefällt. Alea iacta est. „Du kannst meine Hand halten, wenn wir auf dem Weg nach unten sind.“
Schockiert zog er die Augenbrauen nach oben.

„Das ist wichtig. Ich arbeite an einem Projekt über Impulskontrolle.“


Ich starre auf die weiße Wand über dem weißen Fußende und der weißen Decke. Alles ist weiß hier, das ganze Gebäude. Und so still. Ich habe das Gefühl, als könnte ich die Wände atmen hören. Draußen, vor der dicken Zimmertür höre ich eine Frau schreien und die schnellen Schritte der Betreuer, die den Gang hinunter rennen. Ich drehe den Kopf weg, das ist nicht mein Problem. Meine Aufgabe ist: heilen.
Ich starre nach draußen, wo der Schnee eine friedliche dichte Decke über der Erde bildet. Eine Pause für das Leben. Alles weiß. Und daneben der kleine Blumenstrauß im Wasserglas. Ein Fleck lebendige Farbe. Lila. Ich lächele. Bist du verrückt! wiederholt mein Kopf die fremde Stimme. Eine berechtigte Frage.


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