von Christa Blenk

 

Vor ein paar Jahren wurde bei Marie Alzheimer festgestellt.

Jetzt ist sie 78 Jahre alt. Nacheinander waren ihre Mutter, ihr Bruder, ihr Mann, ein Cousin, ihre Tante und viele Freunde verstorben.  Als sie alleine nicht mehr zurecht kam, kehrte ihr jüngster Sohn an seinen Geburtsort zurück, um sich um Marie zu kümmern. Ein Heim kam für ihn nicht in Frage. Die Erinnerungsmomente  an ihren Mann, ihre Kinder, ihre Enkelkinder und an das kleine Schuhgeschäft, das Marie mit George betrieb, wurden immer seltener.

Philipp verbringt seit über 20 Jahren fast jeden Urlaub an diesem kleinen Ort und genau so lange kennt er Marie. Er spielte früher mit ihrem Bruder und mit ihrem Mann Golf. Nach seiner Scheidung vor 12 Jahren, kaufte er sich ein kleines Häuschen nicht weit weg vom Meer und vom Haus von Marie. Seit  10 Jahren begleitet ihn jetzt Clea an den Atlantik und auch sie verliebte sich sofort in das Licht, den Wind, den Himmel, das kleine Haus und die Stille in den Wintermonaten.

Seit ein paar Monaten leben Clea und Philipp dauerhaft an dem Ort und haben Maries Sohn angeboten, sie ab und zu auf einen Spaziergang mitzunehmen. Sie einigten sich auf den Montagvormittag, an diesem Tag hatte Marie kein Programm und es kam auch niemand vorbei, um mit ihr ein wenig ins Freie zu gehen. Der Sommer war heiß gewesen, der Herbst großartig, aber schon ab Mitte Dezember waren die langen Spaziergänge oft nur noch gut eingepackt und mit Regenjacke möglich. Anfang Januar verhinderten schließlich schwere Stürme, Eiseskälte und ein Dauerregen  jegliche Aktivität im Freien. Der erste Montag im Januar war so ein Tag.

„Spazierengehen mit Marie wird wohl heute nicht funktionieren“ meinte Clea, als sie um 10.00 Uhr aus dem Fenster schaute.

Es wollte gar nicht richtig hell werden. Verstreut herumliegende Gartenstühle, ein umgedrehter, weißer Plastiktisch ohne Beine, abgebrochene Äste der großen Pappel und drei zerbrochene Blumentöpfe waren das Ergebnis einer sehr stürmischen Nacht.

„Wir könnten mit ihr malen oder noch besser, wir machen heute einen Musikvormittag“ schlug Philipp vor.

Maries Sohn hatte ihnen schon vor einiger Zeit verraten, wo der Haustürschlüssel lag und so betraten sie 20 Minuten später vorsichtig, um Marie nicht zu erschrecken, ihr Haus. Sie saß mit geschlossenen Augen vor dem laufenden Fernseher, in dem gerade  irgendein Tennismatch übertragen wurde. Zwei Katzen lagen auf dem großen Esstisch am Fenster, eine dritte saß hinter Marie auf der Rückenlehne des Sofas und schnurrte vor sich hin. Marie blickte auf und schaute die Besucher mit leeren Augen an. Nach ein paar Sekunden erkannte sie Philippe und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Sie haben Angst, dass ich mich verlaufe“ sagte sie ganz leise und leicht verlegen mit Blick zur Tür.

„Heute ist es zu kalt für einen Spaziergang. Hast Du Lust auf Musik, Marie?“

„Wenn Ihr wollt!“

„Was hörst Du denn gerne?“

„Ich weiß nicht!“

„Magst Du Johnny?“

„ Johnny, Ja!“ Marie strahlte, fing sofort an, sich zu bewegen und sang mit tiefer Stimme die Melodie von „allumer le feu“.

Philippe fand sehr schnell heraus, dass es die Schlager der 60er und 70er Jahre waren, die Marie liebte und die sie fast ausnahmslos kannte. Bei manchen Liedern sang sie Textfragmente mit. Oft suchte sie vergeblich nach einem Wort, war aber sofort wieder dabei, sobald es ausgesprochen oder gesungen wurde. Marie war eine lebende Juke-Box und kannte jeden Song, der in ihrer Jugend im Radio gespielt wurde. Sie tanzte mit Clea und bewegte ihre Hände zur Musik, hob und senkte den Kopf synchron zur Lautstärke und zum Rhythmus.

Am Montag darauf schien wieder die Sonne. Der Himmel war blau, es war windstill aber sehr kalt. Philippe und Clea kamen wie immer kurz vor 11.00 Uhr zu Marie, packten sie warm ein und gingen mit ihr eine knappe Stunde bei Ebbe am Strand spazieren. Zurück im Haus fragte Philippe, ob sie ein wenig Musik hören möchte. Marie schien sich zu erinnern, lächelte verschmitzt und nickte. Philippe suchte auf You-Tube nach ein paar typischen Schlagern von Dalida, Veronique Sanson, Johnny Halliday und anderen und dann kam Adamo. Marie erkannte das Lied schon nach zwei Takten und stand energisch auf. Sie wollte tanzen. Es war ein Tango in dem es darum ging, dass ein Mädchen mit ihrem Vater einen Ball besucht und ein junger Mann sie zum Tanzen auffordern möchte.

„Gestatten Sie, Monsieur?“

Marie machte eine fragende, sehr elegante Handbewegung und schlüpfte in die Rolle des jungen, bittenden Verehrers, der das behütete Mädchen auf die Tanzfläche führen will, aber zuerst den etwas misstrauischen Vater von seinen ehrenhaften Absichten überzeugen musste. Marie nickte, um dann direkt das erwartungsvoll blickende Mädchen zu spielen. Ihre Mimik ging von fragend zu hoffend und blieb dann bei einem Lächeln hängen. Sie spielte den strengen Vater, den jungen Tänzer und das kokette Mädchen. Clea hielt sie an beiden Händen fest und sie drehten sich langsam im Kreise und jedes Mal wenn Adamo mit seinem unverwechselbaren Akzent „Vous permettez, Monsieur?“ sang, löste Marie kurz ihre Hand aus der von Clea, machte wieder ihre einladende, fragende Handbewegung  und brachte den Text beinahe als Sprechgesang hervor. Dann streckte sie ihren Arm aus, um den geforderten Anstandsmeter, den Adamo gerade besang, anzudeuten, um direkt danach wieder ihre Vorfreude auf den Tanz zum Ausdruck zu bringen.  

Philippe ließ den Song dreimal laufen und die früher eher schüchterne Marie wurde nicht müde zu singen, zu sprechen und zu gestikulieren. Sie glühte vor Begeisterung und auch als sie sich zögernd wieder auf das braune, riesige, abgewetzte Sofa setzte, kam Adamos‘ Song immer noch summend über ihre Lippen.

Um 13.00 Uhr brachte Maries Sohn das Mittagessen. Beim Gehen rief sie Philippe und Clea leise „Bis zum nächsten Tanz“ hinterher und zwinkerte mit den Augen, aber so, dass ihr Sohn das nicht sehen konnte.

 

V2/5900