von Eva Fischer

Die Zeit heilt Wunden, heißt ein Sprichwort.

Entspricht das der Wahrheit?

Bildet die Zeit nicht vielmehr nur eine dünne Schicht über eine Wunde, die jederzeit wieder aufbrechen kann?

Gestern schaute ich mir einen Film an. Da hörte ich deine Stimme: „Lauft, Jungs! Lauft!“ Du feuertest ein paar Jungen auf dem Eishockeyfeld an.

Ich weiß, es war nicht deine Stimme. Die habe ich jetzt schon ein Jahr nicht mehr gehört. Aber ich schwöre, es war deine Stimme.

Und dann sah ich dich vor mir. Groß und kräftig! Der Körper, das Lachen, die Lebensfreude, deine Treue, deine Ehrlichkeit. Unverwechselbar und einzigartig wie deine tiefe Stimme mit dem holländischen Akzent.

Der Film auf der Kinoleinwand erlischt, stattdessen beginnt ein anderer Film vor meinen inneren Augen.

Wie lange ist es her, dass wir uns zum ersten Mal gesehen haben? Es war bei einem Schüleraustausch in Belgien. Du blinzeltest mir zu, erhobst das Glas auf mich. Kurz darauf waren wir in ein Gespräch vertieft. Der Gesprächsstoff ging uns eigentlich nie aus. Du interessiertest dich für Land und Leute, für ein anderes Land als das eigene, für andere Leute als die bekannten Gesichter. Auch ich war fasziniert von meinem Nachbarland, von dir.

Der Austausch fand zweimal im Jahr statt. Zweimal im Jahr trafen wir uns, tauschten unsere Gedanken aus. Alles hat ein Ende. So schien auch unsere Geschichte vorbei, nachdem die verantwortliche Lehrerin die Schule verließ.

Doch dann kam Jahre später ein Brief von dir. Du warst mittlerweile pensioniert und geschieden.

Erinnerst du dich noch an mich?

Deinen Nachnamen hatte ich tatsächlich vergessen, aber dein Gesicht, unsere Gespräche natürlich nicht.

Wir nahmen unsere jährlichen Treffen wieder auf. Einmal in Belgien. Einmal in Deutschland.

Mit Begeisterung feiertest du den rheinischen Karneval mit uns. Du schriest am lautesten „Helau“, was bei dir immer nach „Hölou“ klang. Du sammeltest die Kamelle auf und drücktest sie wenig später einem verdutzten Kind in die Hand. Mit Stolz trugst du ein buntes Hütchen, bandest dir Luftschlangen um den Hals. Wir tanzten ausgelassen auf der Straße. Eifrig versuchtest du den Refrain der Karnevalslieder zu lernen, um ihn mitzusingen.

„Echte Fründe ston zesamme

Ston zesamme su wie eine Jott un Pott“

(Höhner)

Du warst da, als ich einen runden Geburtstag feierte, hieltest eine Rede auf Französisch. Alle amüsierten sich, auch wenn sie nichts verstanden. Deine Mimik sprach auch ohne Worte.

Du warst da, als meine Mutter starb. Wir tauschten lange Mails aus über Tod und Leben, über Vergänglichkeit und Erinnerung.

Ich besuchte dich in Belgien. Du zeigtest mir viele Orte: Mons, Tournai, Antwerpen, Brüssel, Lüttich …

Einmal regnete es, aber ich brauchte Bewegung. Du kamst mit und hieltest einen Regenschirm über mich. „Ich kann doch selbst einen Schirm halten und du sollst dich besser selbst schützen“, meinte ich. Aber nein, du bestandst darauf, mich zu begleiten und den Schirm über mich zu halten, als sei ich eine prominente Person. Der Regen rann von der Baskenmütze über dein Gesicht, das dennoch strahlte.

Manchmal unterhielten wir uns über Politik. Ich bin ein Nachkriegskind, du hattest den Krieg erlebt. Es gab Grenzen wie Stacheldraht zwischen uns. Les Boches. Das ließ sich nicht ganz ausmerzen, auch wenn du mit deiner Freundschaft den größten Beitrag zur Versöhnung leistetest.

Vor einigen Jahren hast du einen Besuch bei uns angekündigt. Das erste Mal nahmst du den TGV und nicht mehr das Auto wie sonst. Du warst sehr nervös, ob du es noch schaffst. Ich zeigte dir das Museum zur deutschen Geschichte in Bonn, aber ich spürte, dass dich alles sehr anstrengte, du am liebsten mit mir auf dem Sofa saßt, um dich mit mir zu unterhalten.

Man weiß manchmal nicht, wann es das letzte Mal ist. Vielleicht ist es besser so, denn Abschiednehmen von einem Freund tut weh.

Deine Mails blieben aus. Du könntest die Technik nicht mehr beherrschen, sagtest du.

Dann kam die Corona-Pandemie. Du wurdest infiziert, bekamst ein Gerät zur Beatmung nach Hause, warst glücklich, dass du nicht ins Krankenhaus musstest. Ich rief dich an. Du beendetest das Gespräch nach wenigen Minuten.

„Kein Anschluss unter dieser Nummer“, heißt es jetzt.

Unsere Geschichte hat kein Ende, denn sie lebt in mir, vermutlich sogar in meinem Sohn, weiter. Vielleicht findet sie auch neue Leserinnen und Leser.  

V2/4323