Von Christian Günther

»Feierabend«, jubelte Judith nach dem Einsatz und schnallte sich auf dem Beifahrersitz an.

»Jau«, bestätigte ich und erweckte per Knopfdruck die 184 Pferde des zivilen 3er-BMW zum Leben. »Den ham wa uns verdient.« Ein Schulterblick – und ich zog auf die Fahrbahn. »Nur noch et Auto am Revier parken, dann ham wa Wochenend.«

Noch keine hundert Meter gefahren, meldete sich die Chefin Romina über Funk: »Judith, Nick? Für Romina? Seid Ihr noch in Werden?«

»Jo, sind wa, Romina«, bestätigte Judith.

»Gut.«

»Aber nich noch ’n Einsatz, oder?«

»Doch! Lena und Michael nehmen gerade einen Unfall in der Hammer Straße auf. Auffahrunfall. An der Baustelle. Die Stimmung ist aufgeheizt. Unterstützt sie, bitte. Beide Beteiligte haben vorhin gleichzeitig die 110 gewählt. Dritter Wagen kommt, um Fahrbahn in Fahrtrichtung Kupferdreh zu sperren. Diese Spur ist durch Unfall und Baustelle blockiert.«

»Okay, verstanden.« Judith beugte sich zu mir herüber, um das Display des Bordcomputers besser zu sehen. Wie bei BMW üblich, war das Cockpit zu mir, zum Fahrer hin geneigt. »Die ham de Bodycam sicher an wegen de Situation«, vermutete sie. »Ich guck, dat ich ’n Bild bekomm … Moooment … jau, hab Michaels Cam auf ’em Schirm. Er fuchtelt mit sei’m Zeigefinger vor de Kamera rum … und noch Ton an.«

»Sie gehen jetzt mit meiner Kollegin zu Ihrem Wagen«, legte der erfahrene, uniformierte Kollege mit über dreißig Dienstjahren resolut fest, »und wir bleiben hier bei Ihrem. Den Unfall nehmen wir getrennt auf. Zwischen grüner und gelber Ampel ist schon ein gewisser Unterschied.«

»Zuerst die Daten«, fügte Lena hinzu und bat ihren Gesprächspartner auf dem Weg zu seinem Wagen, den Personalausweis und Führerschein hervorzusuchen. Ferner forderte sie einen vermutlich hinter der Unfallstelle wartenden Wagen auf zu drehen. »Fahren Se über de Maasstraße, da kommen Se unten im Hespertal wieder aus. Kennen Se den Weg? Sonst beschreib ich … gut, okay.«

Zwei Minuten später erreichten Judith und ich den Unfallort. Er lag hinter einer Kurve nach den letzten Häusern. Linksseitig bewaldet, rechts ein Abhang. In Folge starken Regens hatte der Boden nachgegeben, daher die Baustelle mit Ampelregelung. Ich rollte hinter dem Ford S-Max Polizeiwagen aus. Die Besatzung des dritten Wagens meldete, dass die Sperrung eingerichtet sei. Lediglich der Gegenverkehr konnte den Schauplatz passieren. Judith neigte ihren Kopf zum Funk ihrer Schutzweste und drückte auf den Sendeknopf.

»Romina, für Judith/Nick, Einsatzort erreicht«, teilte sie der Chefin mit, die umgehend bestätigte. Nach dem Aussteigen sah Judith zu mir. »Bleib Du beim hinteren Wagen, dann hasse et nich allzu weit. Ich geh nach vorn.«

»Du bist zu gut zu mir«, fand ich. »Vielen lieben Dank, Judith.«

»Will ja noch ’ne Zeit lang wat von Dir ham, ne? Deshalb schone ich Dich.« Auf dem Weg zum vorderen Auto begrüßte sie Lena und stellte sich dem dortigen Fahrer ausweisend vor. Etwas Abstand haltend, beobachtend, jedoch eingreifen könnend. Michaels Gesprächspartner hatte sich inzwischen allerdings beruhigt, sie redeten unauffällig miteinander.

Nur bei dessen Kollegin, die bis auf die Augenfarbe wie Judiths jüngere Schwester aussah, herrschte merklich dicke Luft. Wie Judith war Lena – gebürtige Berlinerin, mit zehn Jahren nach Duisburg gekommen – nicht auf den Mund gefallen. Altersbedingt (U30) jedoch teils unüberlegter in ihren Äußerungen als Judith (Ü30). Hatte es damit zu tun?

»Wat is’n hier passiert, Lena?«, fragte ich.

»Kleinen Moment, Herr Seiler«, bat sie ihren Gesprächspartner und wandte sich nun mir zu. Wir traten einige Schritte beiseite und redeten leise. »Blöde Type, dieser Kerl. Nu jut, ich kann mir meine Kunden nicht aussuchen, wa?«

»Also, Lena«, tadelte ich sie.

»Iss doch wahr. Unfreundlich! Seit ich seine Daten aufgenommen habe, noch mehr. Der hat nur sei’n Reisepass bei. Der Perso iss immer zuhause, dit sei sicherer. Pöh!« Sie bemerkte, dass in einem verlangsamenden Wagen aus dem Gegenverkehr jemand ein Handy zückte. »Eyh, hier gibt’s nüscht zu filmen. Los, weiter! Los, fahr!«

Es war sicher nicht der erste Unfall in dieser Gegend, die Neugier mancher Beobachterinnen und Beobachter bei selbst im Grunde harmlosen Dingen wie diesem Blechschaden erschreckend.

»Egal, zum Unfall«, fuhr Lena fort. »Der Vordermann hat jebremst, der Hintermann iss aufjefahrn. Beim Vordermann gelbe Ampel, Hintermann sagt, die sei noch grün gewesen. Keine Zeug:innen.« Sie hatte sich vorgenommen, beim Reden zu gendern. Es klappte nicht immer, aber immer öfter – wie in diesem Falle.

»Schade«, meinte ich. »Wenn keine Zeugeninnen … ähm … und Zeugen«, ich räusperte mich, »dann steht hier Aussage gegen Aussage. Trotzdem: Bremsbereit musse sein als Hintermänneken.«

»Nee, nee, Nick, dit musste noch üben.«

»Wie siehst Du’n den Unfall?«, lenkte ich ab.

»So wie Du. Aber, um auf et Gen…«

»Kein Aber, Lena. Hier geht et um ’en Unfall. Da Ihr Euch scheinbar nich allzu gern mögt, quassel ich ma mit ihm. Okay?«

»Du, tu Dir kei’n Zwang an.«

Ich trat zum Fahrer, der vor seinem Kotflügel lehnte. Das Fenster der Fahrertür geöffnet, hörte ich die Musik aus dem Radio leise bis draußen: Regenbogenfarben. Regenbogen? Ich stutzte. Im Vorbeigehen hatte ich den Wagen bei der Frotzelei mit Judith von hinten gesehen. Der Aufkleber auf dem Kofferraum! Das war doch ein Regenbogen gewesen, oder? Ja, ganz sicher! Lenas Infos dazu … in mir stieg ein Verdacht auf.

»Wie dürfen wir Sie anreden?«, fragte ich die Person.

Deren Augen öffneten sich überrascht. »Wenn es Ihnen keine Probleme bereitet, gerne einfach mit Vor- und Nachname?«, erwiderte der Mensch freundlich. »Dieter Seiler.«

»Fengler, Polizei Kettwig/Werden«, stellte ich mich vor. »Mich dürfen Sie mit Herr anreden. Steht in Ihrem Pass noch … M?«

Ein schweigendes Nicken der Person, während ich Lena über Funk murmeln hörte: »Dat dit ausjerechnet mir passiert.« Ich kannte sie als einen sehr offenen und in Bezug auf Diversität äußerst toleranten Menschen, was sie mit dem verbalen Gendern unterstreichen wollte.

Judith, der der Kontext fehlte, blickte überrascht kurz herüber.

»Sie wissen, dat Se dat ändern lassen können?«, fragte ich Dieter Seiler, während Lena Judith parallel die Situation über Funk erklärte. »Entschuldigen Se, dat meine Kollegin na’m Eintrag gegangen is.«

»Dat war einfach zu ville, mit de Situation auffe Maloche, mit ’em Malheur hier, mit de falschen Ansprache. Da bin ich hochgekocht mit mei’n Emotionen.« Der Mensch sah besänftigend an mir vorbei zu Lena.

»Wie war die Ampel denn nun?«

»Naja, etwas gelb schon.«

Lena gab meine Infos stets parallel weiter.

»Hier vorn inzwischen bereits auf Rot umgesprungen, laut Aussage det Fahrers«, teilte Judith über Funk mit.

Die Person sah fragend zu mir, da ich schwieg.

»Entschuldigen Se«, meinte ich und deutete auf meinen Knopf im Ohr. »Ich war durch ’en Funkverkehr abgelenkt. Wie sah et mit ’em Abstand aus? Genügend zum Bremsen?«

»Nach meinem Empfinden, jo.«

»Hat aber doch nich gereicht?«

»Nee, leider nich.«

»Laut Aussage det Vordermannes nah hinten drauf, drängelnd«, berichtete Judith, während ich die Schäden der beiden PKW betrachtete. Das hatte schon kräftig gerummst, empfand ich.

»Besprechen wir uns kurz?«, bat Michael über Funk, während Gegenverkehr den Ort des Geschehens passierte.

Wir sammelten uns beim S-Max.

»Beide Wagen sind nicht mehr fahrtauglich, daher rufe ich den Abschlepper«, beschloss der Dienstälteste. »Flüssigkeiten sind keine ausgelaufen, glücklicherweise. Anschließend erledigen wir, also Judith und ich, den schriftlichen Kram. Lena und Nick, Ihr macht Fotos von den Wagen, ihren Schäden und der Unfallstelle?«

»Machen wir.« Lena zückte bereits eine Digitalkamera und sah zu mir, während sich Judith und Michael in den S-Max setzten. »Wie biste überhaupt drauf gekommen, Nick, dat der … ähm, also, den ick für ’nen Mann gehalten hab, dieser Mensch non-binär iss?«

»Deine Anrede mit Herr schien ihm nisso zu behagen«, erklärte ich. »Im Radio seines Wagens hörte ich Regenbogenfarben, da hab ich mich an ’en Sticker au’m Kofferraum erinnert. So fragte ich en möglichst neutral nache Anrede. Um zu prüfen, ob et damit zusammenhängt.«

»Wir ham direkt hinter ihm gehalten, ick hab nix jesehn. Übersehn, ehrlich jesacht. Tja, Nick, daran merkt man, dat Du – wie sacht et Deine Judith immer: ’n Fitzelken? – älter bist als ich … ähm diensterfahrener! Natürlich, so war et gemeint. Achtest mehr auf Details, speicherst se unbewusst ab. Dit fehlt mir noch.«

»Dat kommt mit der Zeit, Lena. Du bist auf ’nem guten Weg. Ich war tatsächlich ma jünger, nö, und konnt auch nich allet von Anfang an. Du hast mehr auffe Streitenden geachtet, vorhin.«

»Michael iss sofort losgerannt und ick hab bei Romina Verstärkung angefordert.«

Die Fotos geschossen, der Unfallbericht geschrieben und der erste Abschlepper vor Ort, standen wir nun vor dem BMW, wo Michael ein Fazit zog: »Bei dem Unfall wird keiner frei von Schuld sein. Ob grün, gelb oder rot, das wird sich nie zweifelsfrei klären lassen. Die Länge der Gelbphase hab ich gestoppt. Sie liegt bei drei Sekunden. Das entspricht dem erlaubten Tempo 50 an dieser Stelle. Wichtig, dass niemand ernsthaft geschädigt worden ist. Nur Materialschäden, die lassen sich richten. Wir leiten unseren Bericht weiter. Im Leben gibt’s mehr Farben als die einer Ampel. Du hast es nicht absichtlich gemacht, Lena, mache Dir keinen Vorwurf. Es steht so im Pass. Du zählst nicht zu den Leuten, die immer noch der Meinung sind, dass Ihr«, er sah zu Judith und mir, »als Mann und Frau das normale Ehepaar seid. Die das, was in dem Lied von Kerstin Ott gesungen wird, nicht akzeptieren: Dass zwei Männer ihr Kind zur KiTa bringen oder zwei Frauen den gleichen Ring tragen. Wenn dann noch eine non-binäre Person hinzukommt, drehen manche völlig ab – und die schriftliche Umsetzung wird sehr kontrovers diskutiert.«

Lena sah zu den beiden Unfallgegner:innen, die inzwischen miteinander scherzten. »Die sind zwar bei de Ampel- und Abstandsfrage uneins, sonst wirkt et aber doch recht harmonisch, inzwischen.«

(Version 2)