Von Sonja Ziegler

 

Monatelang hatte Sarah ihr Hab und Gut in handliche Umzugskartons gepackt, die nun überall im Haus zu meterhohen Türmen gestapelt herumstanden. Vieles hatte sie einfach verschenkt oder vorschriftsmäßig getrennt und entsorgt. Das Loslassen und Vernichten von Erinnerungen war ihr erstaunlich leicht gefallen und hatte sie über Wochen in einen wahren Glücksrausch versetzt. Das Haus war jetzt fast vollständig ausgeräumt und ein Käufer bereits gefunden. Im Schlafzimmer stand nur noch das Bett, im Wohnzimmer das Sofa und der Fernseher. Es blieben nur noch wenige Wochen bis zum Abflug.

Schon vor Jahren hatten Sarah und ihr Mann beschlossen, ein neues Kapitel in ihrem Leben aufzuschlagen. Ihr Leben in Deutschland war recht erfolgreich und immer in geordneten Bahnen verlaufen, bestand aber inzwischen größtenteils aus liebgewonnenen Ritualen und Gewohnheiten. Eine Veränderung musste her! Aber Sarah ist ein Kontrollfreak, nichts wird dem Zufall überlassen, das Projekt generalstabsmäßig abgewickelt. Die Tochter steht schon lange auf eigenen Füßen, hatte vor Kurzem geheiratet und steckte mitten in der Familienplanung. Die Geburt des ersten Enkelkindes wollten sie auf keinen Fall verpassen. Die Suche nach einem geeigneten Domizil in der neuen Heimat gestaltete sich schwierig und finanziell musste auch noch einiges geregelt werden. Die Reaktionen ihrer Freunde auf diese Planänderung reichten von Belustigung, über Verständnislosigkeit bis hin zu einer leicht aggressiven Empörung. Sofort hagelte es Einwände:

 „Warum wollt ihr ein so tolles Land wie Deutschland verlassen?“

„Es geht euch doch so gut hier, habt doch alles, was ihr braucht!“

„Ihr könnt doch nicht einfach aufhören zu arbeiten, müsst doch noch zehn Jahre in die Rentenkasse einzahlen!“

„Wovon wollt ihr denn dort leben? In eurem Alter kriegt man doch keinen Job mehr!“
„Ihr habt doch Familie! Wie soll eure Tochter ohne euch zurechtkommen?“


Sarah lächelte bei der Erinnerung an die vielen Abschiedsfeste, die sie und ihr Mann in den letzten Monaten absolviert hatten. Nach und nach war die anfängliche Skepsis ihrer Freunde einer verhaltenen Begeisterung und Neugier gewichen. Einige gaben sogar zu, ein wenig neidisch zu sein. Andere waren ins Grübeln gekommen und dachten bereits über Frührente nach. Sarah freute sich sehr auf diesen neuen Lebensabschnitt, hatte den Umzug akribisch geplant und bereits alles Notwendige in die Wege geleitet, damit sie und ihr Mann in ihrer neuen Heimat reibungslos durchstarten konnten. Ängste hatte sie keine.

Mit Migration kannte Sarah sich aus. Kurz nach dem Prager Frühling war sie mit ihren Eltern und Geschwistern nach Deutschland gekommen. Dieser Neustart in einem fremden Land war ganz und gar nicht reibungslos verlaufen, aber im Großen und Ganzen war Sarah mit ihrem deutschen Leben sehr zufrieden gewesen. Genau dieses Leben ist ihr nun zu eng geworden, zu durchstrukturiert, schlichtweg zu deutsch.

An den Wänden hängen noch etliche gerahmte Bilder. Ihre Lieblingsbilder im Treppenaufgang zeigen „moderne Stillleben“, Fotos von Obst und Gemüse, das zuerst weiß angemalt wurde und sich nun in verschiedenen Stadien der „Wiederherstellung“ befindet. Sarah hatte diese Fotos mit den quietschbunten Rahmen von ihrem ersten Gehalt gekauft, um ihrer ersten Wohnung einen „surrealen“ Touch zu verleihen. Danach hatten die Bilder sie über viele Jahre durch verschiedene Wohnungen begleitet. In einer rustikalen spanischen Finca würden sie wohl völlig deplatziert wirken. Sie hatte sie also kurzerhand bei Ebay unter „zu verschenken“ annonciert. Wenige Stunden später stehen zwei junge Männer vor ihrer Tür. Der eine heißt Mohammed. Er hat als Erster auf Sarahs Inserat reagiert. Etwas schüchtern betreten die beiden das Haus, schauen sich die Bilder an, lächeln belustigt und unterhalten sich dabei in einer fremden Sprache. „Where are you from?“, fragt Sarah. Beide kommen aus Syrien und leben seit acht Monaten in Deutschland. Der Jüngere studiert Informatik, Mohammed ist Chemielehrer und hat in Syrien eine Frau und zwei kleine Kinder zurückgelassen, die er seit einem Jahr nicht mehr gesehen hat. Nun hat er grünes Licht für eine Familienzusammenführung und eine Wohnung in Aussicht, die er für seine Familie gemütlich herrichten möchte. Sie sind mit der Straßenbahn gekommen, aber die Bilder sind zu schwer zum Tragen. Der jüngere Mann ruft seinen Vermieter an und bittet ihn, sie mit seinem Wagen abzuholen.

 

Sie setzen sich zum Warten auf die einsame Couch und unterhalten sich über ihre Flucht und ihre Wünsche und Träume. Erinnerungen explodieren in Sarahs Kopf und plötzlich hat sie einen fetten Kloß im Hals. Es sind Erinnerungen an ihre eigene Flucht vor fast 50 Jahren, die sie schon so lange erfolgreich verdrängt hatte. Stockend erzählt sie den beiden Syrern von jener Nacht, als ihre Mutter sie und ihre kleine Schwester unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte. Ein Koffer war bereits gepackt, alles andere ließen sie einfach zurück. Erst später im Zug hatte Sarah erfahren, wohin die Reise ging. Der junge Syrer grinst ein wenig verlegen und sagt: „Hey, welcome to the club!“

 

 

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