Von Peter Burkhard

Wie jeden Nachmittag nach der Schule wartete Briana unweit der Einmündung des Valley of Fire Highways in die Interstate 15 auf ihren Bruder. Darren holte sie hier regelmäßig ab, um sie in seinem Ford Ranger nach Hause zu fahren. Das zwölfjährige Mädchen vom Stamm der Southern Paiutes kauerte neben einem trockenen Gebüsch, um nicht entdeckt zu werden. Und als Schutz vor Staub und Abgasen bedeckte sie Nase und Mund mit einem dünnen Schal.
Binnen einer Viertelstunde zählte sie siebenundzwanzig Sattelschlepper und elf Motorräder, die auf der Schnellstraße an ihr vorbeidonnerten. Die Pick-ups und Personenwagen ließ sie außer Acht. Darren hatte ihr versprochen: „Für jeden Truck, der an dir vorbeifährt, während du auf mich warten musst, bekommst du einen Cent, für jedes Motorrad zwei Cents.“ So wuchs ihr kleines Vermögen, welches sie in einem Leinenbeutel aufbewahrte, jeden Abend um ein paar Münzen.
Eine weinrote Road King hielt an der gegenüberliegenden Seite des Freeways, dort mitten im Nichts und riss Briana aus der Konzentration des Zählens. Ein Mann und eine Frau stiegen vom Sattel und entledigten sich als Erstes ihrer Helme. Die Beifahrerin bückte sich und schüttelte ihre blonde Mähne, während sich der Fahrer mit dem Ärmel seiner Lederjacke den Schweiß von der Stirn wischte.
„Wir sind zu weit westwärts gefahren. Mann, habe ich einen Durst, gib mir bitte was zu trinken.“
Die Blondine wühlte in der Seitentasche des Motorrades und warf ihrem Partner eine Dose zu. „Wie kommst du darauf?“
„Es geschah auf diesem Freeway zwischen Mesquite und Moapa und wir haben soeben die Ausfahrt nach Moapa hinter uns gelassen. Wir müssen umkehren und einige Meilen zurückfahren.“
„Wahrscheinlich hast du recht. Aber es wird schwierig werden, den genauen Ort zu finden, die haben bestimmt keine Gedenktafel aufgestellt. Trotzdem, wir können es ja versuchen.“
Briana rutschte tiefer unter das Gebüsch. Aufmerksam beobachtete sie, wie die Fremdlinge gierig tranken und lamentierten.
Plötzlich hielt der Mann inne, hob die linke Hand gegen das Sonnenlicht über die Augen und blickte angestrengt in ihre Richtung. „Hey!“ Er schien sie entdeckt zu haben. „Hallo! Hey, du.“ Er schrie, fuchtelte mit den Armen und versuchte, zwischen den Fahrzeugen hindurch ihre Aufmerksamkeit zu erheischen. Briana regte sich nicht, kniff die Augen zusammen und beobachtete angestrengt das Geschehen auf der anderen Straßenseite. Der Motorradfahrer suchte nun offensichtlich nach einer Lücke im Verkehr, um zu ihr hinüberzugelangen.
Jählings hielt mit laut quietschenden Bremsen ein schwarzer Pick-up vor ihrem Versteck. Derbe Rockmusik wummerte aus der Fahrerkabine, als Darren kraftvoll die Tür auf der Beifahrerseite aufstieß.
„Schwesterchen, ich habe dich fast nicht gesehen. Komm schon, steig ein.“
Während die Karre darauf in hohem Tempo in die Kolonne des Feierabendverkehrs einfädelte, erhaschte das Mädchen einen letzten Blick auf das Pärchen, welches sichtlich resigniert zum Motorrad zurückkehrte.

„Solch ein Arschloch“, schimpfte Remo, „die Kleine hätte uns vielleicht helfen können und jetzt ist sie weg. Komm Schatz, lass uns aufsteigen, ich will den Platz finden, bevor es dunkel wird.“
Kaum im Sattel betätigte Remo den Blinker und wartete, um auf den Freeway zurückzukehren. Erschrocken fuhr er zusammen, als ein schwarzer Ford Ranger an ihnen vorbeidröhnte und wenige Meter weiter in einer Staubwolke zu stehen kam. Ein kräftiger junger Mann indigener Abstammung sprang aus dem Fahrzeug und ging entschlossenen Schrittes auf das Motorrad zu. Der Lenker des schwarzen Pick-ups hatte kehrtgemacht.
„Was wolltet ihr von meiner Schwester?“ Der Hüne wirkte bedrohlich aggressiv und stellte sich den Bikern breitbeinig in den Weg.
Sarah stieg mit beruhigenden Gesten von der Harley und erklärte dem Aufgebrachten in fließendem Englisch, warum sie versucht hatten, mit dem Mädchen Kontakt aufzunehmen. „Eine Herzensangelegenheit unserer Reise ist es unter anderem, Steve unsere Ehre zu erweisen und den Ort zu finden, wo er vor zwölf Jahren ums Leben kam. Es geht uns auch darum, zu verstehen, wie dieser tragische Unfall geschehen konnte.“
Darren schien Sarah zu glauben, jedenfalls ließ er sich durch ihre Worte beschwichtigen. Nach einer kurzen Aussprache forderte er die beiden auf, ihm zu folgen. „Bei uns zu Hause lässt es sich besser reden als hier auf der Straße, fahrt hinter mir her.“

„Ich erinnere mich an diesen Tag, als ob es gestern gewesen wäre.“ Der Gastgeber goss vom abgestandenen Kaffee nach, der während Stunden auf einer Wärmeplatte vor sich hingeblubbert hatte. „Wir haben viele Unfälle auf diesem Freeway, das ist nichts Besonderes. Aber damals stand ich nur wenige Fahrzeuge weiter hinten im Stau und später beim Vorbeifahren habe ich die am Boden zerstörte Gruppe gesehen, der Steve angehört hatte. Schrecklich. Arme Kerle.“
Remo presste die Lippen zusammen und griff schweigend nach der Hand seiner Freundin.
„Am nächsten Morgen sah ich auf unserem lokalen Fox-Sender, um wen es sich handelte. Und sie brachten einen Bericht über die Reaktionen in der Schweiz. Das berührte mich. Vor allem aber das Unfallgeschehen ging mir sehr nahe.“
„Du weißt, was passiert ist?“ Remo schluckte leer.
„Ja. Die Gruppe, ich glaube, es waren einundzwanzig Personen, hielt mit ihren Motorrädern auf dem Pannenstreifen, um Regenkleidung anzuziehen. Ein sich nähernder Lastwagen geriet auf der nassen Fahrbahn außer Kontrolle, raste in die geparkten Motorräder und schleuderte fünf davon durch die Luft. Eines erschlug euer Idol. Er verstarb noch an der Unfallstelle.
Einige Tage später suchte ich den Ort auf, aus Neugier und um der Gruppe Respekt zu zollen.“
„Weißt du genau, wo das Unglück geschah?“ Sarah wurde hellhörig. „Könntest du uns zeigen, wo es war?“
„Ja, das kann ich, aber heute ist es zu spät. Morgen ist Samstag, dann werde ich euch hinführen, wenn ihr das wollt.“
„Das wäre sehr hilfreich, dann müssten wir jetzt nur noch einen Ort zum …“
„Ihr könnt bei uns übernachten“, fuhr die Mutter der beiden Geschwister dazwischen, die bis dahin schweigend am Herd hantiert hatte. „Die umliegenden Motels sind alle unglaublich teuer und Campingplätze gibt es keine in dieser Gegend. Es liegt an euch …“

Bald nach dem Abendessen zogen sich Mutter und Tochter zurück. Darren hingegen und seine neuen Bekannten saßen lange vor dem kleinen Haus. An einem Feuer, dessen Flammen zum Wüstenhimmel loderten, sprachen sie über den Menschen Steve Lee, seine Bedeutung als Idol der Schweizer Rockszene und über die Erfolge von Gotthard in ihrer aktuellen Besetzung. Sie tranken Bier, ließen einen Joint kreisen und versanken in Melancholie. Dazu hörten sie die Songs der Band, klatschten zu deren harten Rhythmen und lauschten andächtig Steves unvergleichlicher Stimme im Duett mit Monserrat Caballé.
Es war weit nach Mitternacht, als Darren sich verabschiedete. „Schlaft gut ihr zwei, wir sehen uns in ein paar Stunden. Und du, Steve“, er wandte sich gegen Osten, blickte in die Dunkelheit und schlug sich die rechte Faust auf die Brust, „ruhe in Frieden, mein neuer Freund.“

„Ich liebe dich“, flüsterte Sarah Remo ins Ohr und sah auf zu den funkelnden Lichtern des Himmels. „Lass uns hier draußen pennen, ich hole unsere Schlafsäcke.“
„Was denkst du, Sarah, war das Zufall oder Bestimmung, dass wir Darren über den Weg gelaufen sind? Ich habe gelesen, dass wir Menschen nie aus Zufall begegnen. Sie kreuzen unsere Wege aus einem bestimmten Grund.“
„Ich weiß es nicht, Remo. Schicksal, Fügung, who cares. Hauptsache ist, dass er uns den Ort zeigen wird. Weißt du, was ich am schlimmsten finde?“ Sie schmiegte sich an ihren Freund. „Dass Steve jahrelang von dieser Reise geträumt, aber nie Zeit dafür gefunden hatte. Und kaum war die Gruppe unterwegs, geschah dieses verfluchte Unglück. Es schaudert mich, wenn ich bloß daran denke.“
Eng umschlungen sahen sie schweigend zu, wie die letzten Flammen erstarben.

Als das Pärchen am späten Morgen ins Haus trat, fanden sie die Mutter in der Küche vor.
„Guten Tag. Habt ihr draußen geschlafen?“
Sarah sah sich suchend um. „Ja, es war sehr friedlich. Wo sind Darren und Briana?“
„Briana ist auf dem Weg zu einer Freundin und Darren musste notfallmäßig ausrücken. Er arbeitet auf unserem Solarprojekt, dem Photovoltaik-Kraftwerk und dort wurde Alarm ausgelöst.“
„Das ist schade, jetzt kann er uns die Unfallstelle nicht zeigen.“ Remo reagierte zerknirscht. „Seltsam, dass wir nicht wach wurden, als er wegfuhr.“
„Mein Sohn lässt sich entschuldigen, er hat mir dies für euch gegeben.“ Die Frau ergriff einen in ein Tuch gewickelten Gegenstand und streckte ihn zusammen mit einem Zettel den verdutzten Schweizern hin. Nach einem Blick auf das Papier seufzte Remo erleichtert: „Ein Kroki, wenigstens das.“
„Schau nach, was in dem Tuch ist, mach es nicht so spannend.“ Sarah drohte vor Neugier zu platzen.
„Er hat noch etwas dazu geschrieben.“ Remo legte den Gegenstand auf den Tisch und las den fahrig geschriebenen Text: „Dies sind abgerissene Verschlussstücke von einer von Steves Satteltaschen. Ich habe sie in der Nähe des Unfallortes im Sand gefunden. Sein Motorrad war das einzige mit schwarzen Ledertaschen, die anderen Harleys hatten alle feste Boxen. Behaltet das Stück oder gebt es der Band als stilles Andenken. Sorry, bin in Eile. Darren“

Beim Abschied umarmte die Mutter die jungen Leute. Sarah sah ihr in die Augen und weinte. „Sie sind eine tolle, hilfsbereite Familie. Wir sind Ihnen sehr, sehr dankbar!“

* * *

Im Oktober 2010 brachte die Schweizer Hardrockgruppe Gotthard dreizehn ihrer Alben gleichzeitig in die eidgenössischen Charts.
Aus tragischem Grund: Ihr begnadeter Sänger Steve Lee war tot, erschlagen von einem Motorrad.
Die Nachricht von seinem Tod verbreitete sich in Windeseile im ganzen Land und in der Rockszene rund um die Welt. Die Fans waren geschockt und rückten übers Netz zusammen, um einander Trost zuzusprechen und dem Verstorbenen zu huldigen.

 

https://youtu.be/ccUiv_8kDWY

 


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