von Clara Sinn
Ich suche
meinen Ordner systematisch ab. Lauter Songs hab ich da gelistet, allesamt schönste Erinnerungen weckend an Klassenfahrt, Discozeit, Karaokesieg. Mein Lebenssong ist nicht dabei.
Ich trage ihn im Herzen.
Seit ich ihn zum ersten Mal hörte in einem Silvesterseminar. Ich war in unkontrolliertes Schluchzen ausgebrochen, unfähig die Übung mitzumachen, das kannte ich noch nicht von mir.
Es tut gut, so zu weinen, endlich.
Du bist gegangen und ich war nur starr. Am Sarg in der Kapelle, beim Händeschütteln draußen davor. Wie konnte es sein, dass ich nicht zusammenbrach, mir die Seele aus dem Leib schreiend in unaufhörlichen Weinkrampfwellen …
Ein einziges Aufschniefen in einem Seminar zu Ostern. Wir sollten ein heiliges Objekt mitbringen und auf ein hindrapiertes Seidentuch in der Mitte des Gruppenkreises auf dem Fußboden ablegen. Ich hatte das rote Schächtelchen mit dem weißen Satinband mitgenommen. Für den Ring.
Ich muss einen weichen Moment gehabt haben, der Seminarleiter sagte nur, „… aber welchen Kummer du in der Seele trägst, kann niemand sehen“. Eine Deutschlehrerin, der ich näher gekommen war, hatte ein Paar weiße Babyschühchen mitgebracht. Unfähig, sie richtig auf dem Tuch zu deponieren, weil es sie so schüttelte.
Sie hatte das Kind verloren, als ein Rotfahrer in ihren Wagen gekracht war. Hatte auch die Ehe verloren. Über diesen Tod. Sich selbst. Vielleicht nicht. Aber die Frau, die sie vorher war, gab es nicht mehr.
Ich will meine alte Babs wiederhaben, hätte er immer wieder gefordert, aber das gehe doch nicht, so weiterzumachen. Als wäre nichts geschehen. Sie habe die Schühchen damals ganz hinten in den Schrank gepackt und beim Auszug mitgenommen, ohne in die Tüte zu schauen und sie auch bis jetzt nie mehr geöffnet.
Es tut gut, so zu weinen, endlich. Nach über 30 Jahren.
Wir sollen an eine berührende Begegnung in unserem Leben denken und ich denke an dich, immer bist du es, der mir einfällt, wenn es um berührendes Gefühl geht. Dann setzt die Musik ein.
Langgezogen sanfte Töne, ein Soloklavier. Ich weiß nicht recht wieso, aber ich kann ein plötzliches unerbittliches Schluchzen unmöglich stoppen, ich weine heftig, bis die Musik aufhört, bleibe benommen zurück, unser Song …
Wir hatten nie so etwas wie unseren Song wie andere Paare.
V1/2275