Von Helmut Blepp

 

Wie meist besteht die Fußstreife auch an diesem Abend aus einem jungen und einem älteren Beamten, heute Michler und Prokop. Ihnen fällt der sich unsicher bewegende Mann auf dem Gehsteig sofort auf. Eine hilflose Person, denkt der junge Polizist; Ein Suffkopp, der ältere. Sie gehen auf ihn zu, und als er ins Licht tritt, stellen sie fest, dass sein linkes Auge zugeschwollen ist. Er hat aus der Nase geblutet. An Mund und Kinn ist das Blut bereits getrocknet. Seine Hemdbrust ist ebenfalls damit befleckt.

Prokop, der ältere, übernimmt das Reden.

„Na, was ist Ihnen denn passiert? Brauchen Sie einen Arzt?“

„Nee, verdammt“ winkt der Mann ab. „Ich will Anzeige erstatten.“

 

Auf dem Revier ist um diese Zeit noch nicht viel los. Olsen, der Schichtleiter, sitzt gelangweilt vor seinem Computerbildschirm. Wenig begeistert schaut er auf, als das Trio eintritt.

„Wen habt ihr denn da? Passt bloß auf, dass der hier nichts versaut!“

„Wir haben ihn auf der Straße gefunden“, meldet Michler eifrig. „Herr…?“ Er sieht den Mann fragend an.

„Graubold“ antwortet der. „Heinz Graubold.“

„Herr Graubold wurde offenbar geschlagen“, fährt Michler fort. „Er möchte das anzeigen.“

„Dann muss er warten.“

Olsen deutet auf eine Reihe von leeren Stühlen vor dem Schalter.

„Ihr habt euch erst noch um andere Herrschaften zu kümmern. Die haben ältere Rechte. Michler, Du bemühst dich um die Dame im Besprechungsraum 1, und du, Willi, bist ganz nett zu dem Herrn Krämer in Raum 2.“

Michler freut sich über die Aufgabe, Prokop brummt etwas Unverständliches und verdrückt sich unwillig.

 

 

Michler schaut auf den Bildschirm. Wenigstens die persönlichen Daten der Frau hat Olsen aufgenommen. Erna Mertens, sechsundfünfzig, aus dem Viertel.

„Frau Mertens, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Verhaften Sie das Schwein!“

„Bitte, wen sollen wir festnehmen? Und warum?“

„Den Wüstling im `Freistoß ´, der mich auf dem Klo überfallen hat.“

„Hat der Mann Sie verletzt?“

„Nur meinen Stolz. Aber nun machen Sie mal los! Vielleicht liegt der noch dort.“

„Moment mal! Sie sagen, der Angreifer liegt auf der Toilette dieses Lokals. Warum nehmen Sie das an?“

„Weil ich eine wehrhafte Person bin und ihn dort auf die Bretter geschickt habe.“

Sie schüttelt demonstrativ ihre Handtasche, in der es deutlich klirrt.

„Was haben Sie da drin?“

„Nur ein paar kleine Feiglinge, Sie verstehen!“

Sie zwinkert ihm zu. Er ist irritiert, doch bevor er weiter fragen kann, fährt Frau Mertens fort.

„Wissen Sie, das war so: heute ist doch Samstag. Also habe ich geduscht. Und nachdem ich aus der Wanne gestiegen und am Abfrottieren bin, da kriege ich plötzlich einen Heißhunger.

Ein Jumbo-Döner wäre jetzt prima, denke ich. Und so werfe ich den Mantel über und gehe los zum Döner-Yazi.“

„Verstehe ich das richtig“, unterbricht Michler. „Sie sind nackt unter diesem Mantel?“

„Mensch, hätte ich mich vielleicht aufbrezeln sollen für die paar Meter zum Eck, wo Yazi seine Bude hat!“

„Schon gut“ beschwichtigt Michler sie. „Aber wie kamen Sie in den `Freistoß´, wenn Sie doch nur einen Döner wollten?“

„Ich war ja schon auf dem Weg, wie gesagt. Aber dann hörte ich aus der Kneipe den blonden Hans singen. `Auf, Matrosen, ohe´, werden Sie auch kennen. Wunderschön. Ich also da rein. Hinter der Theke stand Scholle, und der macht ein leckeres Amer-Bier. Französischer Kräuterlikör und Zitronensirup mit Bier aufgefüllt. Nach dem Umrühren sieht das aus wie gequirlte Kacke, aber da geh ich für.“

Ihr Gesicht nimmt einen verträumten Ausdruck an. Dann fährt sie fort.

„Ich nippe eben so an meinem Glas und höre mir das Lied an, da kommt die Stelle, wo es heißt `Einmal muss es vorbei sein´, und es kam einfach über mich. Ich habe mich geschüttelt vor Rührung. Dabei ist mir das schöne Amer-Bier übern Mantel geschwappt. Ich also aufs Klo, um das gleich auszuwaschen. Und gerade bin ich da zu Gange, stürzt doch dieser Wüstling herein. Ein Schrei, ein Schlag mit der Tasche. Der Kerl sackt zusammen. Ich den nassen Mantel über und ab durch die Mitte.“

„Hatten Sie den Mantel zum Reinigen etwa ausgezogen?“

„Natürlich. Oder hätte ich mich ins Handwaschbecken legen sollen?“

 

Aus lauter Langeweile wendet sich Olsen dann doch Herrn Graubold zu.

„Wer hat Sie denn so zugerichtet?“

„Keine Ahnung! Ich war nur auf ein Bier im `Freistoß´. Da war ein Typ, der hat in der Musicbox ständig `La Paloma´ gewählt, einmal von Hans Albers, einmal von Freddy, dann wieder von Hans Albers. Bisschen irre, aber ich mag das Lied, besonders die Version von Freddy.“

„Singt er da nicht Spanisch am Anfang“, gibt sich Olsen sachkundig.

„Richtig! Ich saß also auf einem Barhocker und ging ganz in der Musik auf, doch nach dem fünften Glas hat die Natur ihren Tribut gefordert und mich auf die Toilette getrieben. Dort habe ich kaum die Tür geöffnet, da ertönt ein Schrei, und mich trifft ein fürchterlicher Schlag ins Gesicht. Ich bin sofort weg vom Fenster gewesen. Als ich wieder zu mir gekommen bin, war keiner mehr da.“

„Wurden Sie bestohlen?“

„Nee, nur gehauen.“

 

 

Feiner Pinkel, denkt Prokop.  Anzug mit Weste. Seidenkrawatte. Siegelring. Was will der denn auf dem Kiez?

„Also, worum geht es“, kommt er gleich zur Sache.

„Ich möchte eine tollwütige Exhibitionistin melden.“

Prokop lacht. Warum kriege immer ich die Bekloppten, denkt er und entgegnet:

„Ihnen ist aber schon klar, dass wir hier in einem Vergnügungsviertel sind. Hier wimmelt es von … Exhibitionistinnen. Die hüpfen in jeder Bar über Bühnen oder wickeln sich um Stangen.“

„Solche Damen meine ich nicht“, sagt Herr Krämer verärgert. „Mir hat eine nackte Verrückte auf der Toilette aufgelauert, und vor ihr lag einer, den sie schon erwischt hatte.“

„Und wo war das?“

„In einem Lokal, das sich `Freistoß´ nennt.“

„Die Kaschemme kenne ich“, bemerkt Prokop abschätzig. „Wie hat es jemanden wie Sie dahin verschlagen, wenn ich fragen darf?“

„Zufall. Ich bin Steuerberater und habe einen wichtigen Klienten besucht, der unter der Woche keine Zeit hatte. Anschließend, ich war schon auf dem Weg zum Parkplatz, hörte ich plötzlich den alten Schlager von der weißen Taube, und betrat spontan das Lokal, aus dem diese Musik erklang. Ich bestellte einen Aquavit, hörte mir Hans Albers an und verfiel, muss ich gestehen, in eine ganz merkwürdige Stimmung. Als das Lied zu Ende war, ging ich tatsächlich zu der Jukebox, um es noch einmal anzuhören. Da stellte ich fest, dass sie zwei Versionen von `La Paloma´ enthielt. Ich wählte beide mehrmals, und ging dann jedes Mal zurück zur Theke, um noch ein Gläschen zu bestellen. Irgendwie verlor ich durch die Musik aber jedes Zeitgefühl, bis ich letztlich doch ein menschliches Bedürfnis verspürte und die Toilette aufsuchte …“

„… wo Sie auf die gewalttätige Exhibitionistin stießen“, vollendet Prokop den Satz.

 

 

Michler ist froh, als das Protokoll aufgenommen ist.

„Wir werden uns sofort um die Angelegenheit kümmern“, versichert er Frau Mertens und bugsiert sie möglichst zuvorkommend auf den Flur Richtung Ausgang. Dort steht Olsen mit dem unglücklichen Herrn Graubold.

 Als Frau Mertens diesen erkennt, schreit sie hysterisch: „Der Wüstling“, und will schon mit geschwungener Handtasche auf ihn losgehen, da packt Michler beherzt zu, um sie davon abzuhalten.

„Was soll das“, brüllt jetzt Olsen, während sich Herr Graubold hinter ihm versteckt.

„Der Kerl wollte mir an die Wäsche“, rechtfertigt sich Frau Mertens, was Michler veranlasst festzustellen: „Aber Sie tragen doch gar keine.“

„Sind Sie auch noch Komiker“, entrüstet sie sich.

Durch den Lärm alarmiert, kommt nun auch Prokop aus dem Besprechungsraum, Herrn Krämer im Schlepptau. Als dieser Frau Mertens ansichtig wird, ruft er aufgebracht: „Die Exhibitionistin!“

„Ich bin unschuldig“, wirft nun Herr Graubold ein. „Ich wurde niedergeschlagen, obwohl ich nur aufs Klo wollte.“

„Aufs Damenklo“, empört sich Frau Mertens, und macht schon wieder Anstalten, auf ihn loszugehen.

Da tritt Prokop entschlossen dazwischen und sagt ruhig: „Nun mal halblang, ja. Hier häufen sich offenbar die Missverständnisse. Zufällig weiß ich mit Sicherheit, dass der `Freistoß´ nur eine Toilette hat. Unisex heißt das Neudeutsch.“

„Nur eine Toilette“, staunt Frau Mertens. „Dann wollte der womöglich …“. Sie deutet auf Herrn Graubold.

„… wirklich nur pinkeln“, beteuert dieser.

„Schön. Dann wäre das wohl geklärt“, stellt Prokop fest, doch da bringt sich Herr Krämer in Erinnerung.

„Aber warum war die überhaupt nackt“, fragt er anklagend.

„Weil ich meinen Mantel auswaschen wollte … auf dem Damenklo, wie ich dachte.“

„Aber …“

„Fragen Sie nicht weiter“, schneidet Michler ihm das Wort ab. „Glauben Sie mir, Sie wollen es gar nicht wissen.“

„So“, ergreift nun Olsen lautstark die Initiative. „Möchte jetzt noch irgendjemand irgendwas anzeigen?“

Beklommenes Schweigen allerseits.

„Gut! Dann alle raus hier. Ich will Ruhe in der Dienststelle.“

 

Unversehens stehen Frau Mertens, Herr Graubold und Herr Krämer auf der Straße vorm Revier. Betreten schauen sie sich an.

„Tut´s noch weh“, fragt dann Frau Mertens schuldbewusst.

„Nee“, antwortet Herr Graubold. „Aber jetzt brauche ich etwas zum Trinken.“

„Darf ich Sie auf ein Amer-Bier einladen?“

„Wenn wir das Amer weglassen können, gerne.“

„Und was ist mit Ihnen? Kommen Sie auch mit?“

Herr Krämer nickt.

„Warum nicht!“

Die Herren nehmen Frau Mertens galant in die Mitte und laufen los Richtung `Freistoß´.

„Falle ich einst zum Raube empörten Meer …“, hebt Herr Graubold an, und die anderen stimmen ein: „… fliegt eine weiße Taube zu dir hierher …“

                                                                                                                             (Version 2 / 9543 Z)