von Claudia Grothus

Mit 40 hatte er Suzannes Briefe verbrannt. Und die Fotos. Damit endlich Schluss wäre mit dieser glorifizierten Erinnerung. Er hatte ja nie von ihr erzählt. Seiner Frau nicht und auch sonst niemandem.

Das war längst vorbei. Ein Intermezzo.

Kurz nach seinem 50. Geburtstag fand er in der alten Reisemappe den Halsschmuck mit den tibetischen Perlen. Messing mit roten Korallen und Türkissplittern. Ein Hauch von Patchouli haftete an dem brüchigen Lederband. Als der Duft in seine Nase stieg, befand er sich schlagartig in seinem zwanzigjährigen Selbst.

Jetzt bereute er, dass er die Briefe nicht mehr hatte. Noch mehr fehlten ihm die Fotos, die letzten Beweise ihrer Existenz in seinem Leben.

Sie war außergewöhnlich schön gewesen. Und sie hatte voller Dankbarkeit in dieser Schönheit gewohnt, jede Faser an sich genossen wie Sonnenwärme nach einem Bad im Meer. Ihr strahlendes und doch fast schüchternes Lächeln schien aus der Mitte der Welt zu kommen.

Suzanne trug bunte, flatternde Kleider. Ihr langes, dunkles Haar musste sie dauernd beiläufig zähmen, wenn es sich über ihre Schultern schlängelte und an ihre Wangen schmiegen wollte.

Alle liebten Suzanne. So wie alle einen warmen Sommertag am Meer lieben. Und Suzanne liebte aus ganzem Herzen zurück, wie ein Spiegel, der nie leer wird.

Sie wohnte in einer dieser Hütten am Strand, die für Touristen gebaut waren. Hatte sich dort eingerichtet mit all ihren bunten Tüchern, Federn und Ölfarben.

Manchmal verkaufte sie ein Bild. Sie arbeitete sehr ernsthaft an ihrer Kunst. Wenn sie vor der Staffelei stand, wirkte sie konzentriert und verletzlich. Hatte ihr Haar wirr nach hinten gebunden und sie war barfuß. „Ich kann nicht malen, wenn etwas zwischen mir und dem Boden ist.“

Als er sie das erste Mal sah, hatte er keine Ahnung gehabt, dass sie eine der Unerschwinglichen war. Nicht weil niemand sie haben konnte, sondern weil niemand sie für sich allein haben konnte.

Sie waren mit der ganzen Band unterwegs. Noch ein paar Tramper hatten sich am Strand zu ihnen gesellt. Jeden Abend, wenn die Sonne nach einem heißen Tag wie Honig in den Horizont schmolz, hatten sie ein Feuer entzündet und gejammt.

Suzanne saß mit ihnen im warmen Sand und schaute ihn über die Flammen hinweg an. Das Feuer ließ ihre Schultern bronzefarben glänzen.

Genau so hatte sie auf einem der Fotos ausgesehen. Ein Papierabzug mit leichtem Orange-Stich.

Sie hatten ihre gegenseitige Nähe gesucht, sich wie zufällig nebeneinandergesetzt. Wenn sie sich zu ihm lehnte, um bei der Musik etwas in sein Ohr zu sagen, dann legte sie ihre Hand auf seine Schulter. Und wenn sie sich wieder zurücklehnte, dann ließ sie diese Hand langsam seinen Rücken hinunterstreichen. Seinen nackten, braungebrannten, jugendlichen Rücken.

Es hatte auch ein Foto von ihm gegeben. Auf dem Bild war er schlank und muskulös, mit strahlend weißen Zähnen und blonden Haarsträhnen, die aus seinem Zopf gerutscht waren. Er lachte über seine Gitarre hinweg und trug das Lederband mit den tibetischen Perlen.

Am dritten Abend, in der Dunkelheit neben dem Feuer, hatte sie kokett lächelnd ihr Kleid hochgehoben, die langen Muskeln an ihren braunen Schenkeln sehen lassen und sich einfach rittlings auf seinen Schoß, seine abgeschnittene, ausgefranste Jeans gesetzt.

Als sie seine augenblickliche Erektion fühlte, machte sie ein leises Geräusch an seinem Ohr, so ein Hmm, das man von sich gibt, wenn man in einen gefüllten Schokoladenmuffin beißt.

Er hatte sie noch näher zu sich gezogen und sie geküsst.

„Komm mit“, hatte sie geflüstert. Und er war ihr in ihre Hütte gefolgt, auf ihre bunt bezogene Matratze, in ihre farbenfrohen Kissen.

Sie wollte mit ihm die Nacht verbringen, wollte wissen, wer er war, seine Lieder lernen, seine Freuden teilen und seine Geschichte hören. Sie lagen beieinander, rauchten, tranken Wein aus der Flasche, küssten sich, begannen sich zu streicheln und auszuziehen und dann flüsterten sie wieder, lachten, erzählten, holten sich ein paar Cracker und noch mehr Wein.

So war Suzanne. Mit ihr schlief man nicht einfach so. Mit ihr war der ganze Tag Erotik und Liebe und Begeisterung und Kunst.

So war das.

Und er war nie in seinem ganzen Leben glücklicher gewesen.

Der Sommer ging zu Ende. Er musste mit den anderen abreisen. Musste sein Studium fortsetzen.

„Bleib“, bat sie ihn. Als wäre sie ein Kind, das für hundert Mark Süßigkeiten kaufen will.

Und obwohl es ihn in einen Zustand der Ohnmacht versetzte, reiste er ab, zurück an die Uni.

Auf dem Weg zur ersten Vorlesung des neuen Semesters fing sein Herz an zu rasen. Er war überzeugt, einen Infarkt zu haben, geriet in Panik, rief den Rettungsdienst. Sie krempelten ihn auf links, untersuchten alles und jedes an ihm und fanden nichts.

Aber es wurde nicht besser. Er traute sich kaum noch aus dem Haus. Jederzeit konnte diese Hölle in seiner Brust wieder einsetzen. Es war so real. Es war wie sterben.

Suzanne schrieb Briefe. Manchmal telefonierten sie, aber die Verbindung war schlecht und es war teuer. Sie sagte, er solle zurückkommen, dann wäre er bestimmt bald wieder gesund. Aber das war absurd. Er hatte Probleme. Er musste sich konzentrieren. Seine Zukunft stand auf dem Spiel.

Jeder Brief von ihr, der aus einer fernen, warmen Welt in seinem grauen Briefkasten landete, brachte ihn fast zum Heulen. Sie schrieb vom Winter am Meer und ihrem neuen Bild, das sie „Helden im Seetang“ genannt hatte. Und dass sie jetzt den Sohn des alten Fischers kannte. Er lachte tonlos: Suzanne würde selbst auf der Schattenseite des Mondes noch einen neuen Freund finden.

Er antwortete ihr nicht mehr. Um sein Leben in den Griff zu bekommen, hörte er auf Wein zu trinken, rauchte nicht mehr, dachte nicht einmal an Gras, ging früh schlafen, kaufte sich Hemden und Anzüge, ließ sich die Haare schneiden, lernte für seine Prüfungen.

Und es funktionierte. Sein Herz wurde brav und tat, was es sollte. Er schloss sein Studium ab und lernte seine Frau kennen.

Manchmal erlaubte er sich die Erinnerung an Suzanne. Er stellte sich vor, mit seiner Familie – inzwischen hatte er zwei Kinder – an diesen Strand zu reisen. Nur um mal zu sehen, ob ihre Hütte noch stand, ob sie womöglich noch dort wohnte. Aber an dieser Stelle endeten seine Phantasien. Denn was sollte dann dort geschehen?

Der Sommer mit Suzanne war 30 Jahre her, als er sich zum ersten Mal traute, sie zu googeln. Es war Nacht. Stille im Haus, die Familie schlief. Er saß mit einem Glas Wein vor dem Laptop und fühlte eine zittrige Einsamkeit.

Als er Suzannes Namen in das Suchfeld tippte, meldete sich ganz leise sein Herz.

Er hatte das Gefühl, dass wenn er jetzt auf Enter drücken würde, seine Suche nach ihr, seine Erinnerung, die Gefühle für sie, alles offenbar würde, sichtbar für die Welt, für seine Frau und für Suzanne. Als würde er sich selbst verraten.

Er schalt sich einen Dummkopf und klopfte, wie zum Gegenbeweis entschlossen auf die Enter-Taste.

Sofort wurde ihm heiß.

Da war ihr Name, immer wieder ihr Name. Sie war keine unbekannte Künstlerin geblieben. Das war nicht fair! Wie konnte sie mit diesem Leben Erfolg gehabt haben? Aber sie hatte.

Er schob den Cursor auf „Bildersuche“, nahm einen tiefen Atemzug und klickte die Maustaste, als würde er eine Bombe zünden.

Es war wie eine körperliche Begegnung als sich plötzlich ein Foto von ihr öffnete. Älter, ja. Aber sie war es und sie war fast noch schöner geworden. Das Leuchten ihn ihren Augen war noch da. Die Linien um ihren Mund etwas ausgeprägter, die Haare jetzt kurz, was sie sehr markant machte. Der vertraute Anblick überwältigte ihn. Er kannte sie so in- und auswendig.

Sie war real. Sie lebte ein echtes Leben. Und er fühlte sich gedemütigt, weil sie ohne ihn erfolgreich und anscheinend auch glücklich war. Er scrollte über Gemälde von ihr, für die er jetzt keinen Blick hatte. Er wollte SIE sehen. Auf Vernissagen, auf Empfängen. Ihre Kleider waren nicht mehr so bunt und flatternd, aber sie war wunderschön. Dieser Ausdruck in ihrer Haltung, das sich selbst liebend Geschmeidige – alles so vertraut.

Er hätte zu ihr zurückkehren sollen.

Wie hatte Suzanne das gemacht, ihre eigene Kunst so ernst zu nehmen?

Seine Songs waren wirklich gut gewesen. Auf den Konzerten hatten die Leute brennende Feuerzeuge in der Luft geschwenkt.

Er holte seine alten Kompositionen hervor. Las sie, spielte sie und war berührt von der Tiefe, die seine jungen Gedanken und Gefühle gehabt hatten. Wie hatte er diesen begabten Jungen einfach so stehenlassen können?

Hätte er ein Musiker werden können? Unwillkürlich zuckte er mit den Schultern. Brotlos!

Und wenn schon?

War denn sein Leben so schlecht? Er schaute sich in seinem Haus um, seinem Zuhause. Nein, sein Leben war nicht schlecht. Es war ein gutes Leben. Nur war da dieses Ziehen, dieser beharrliche Schmerz, der all die Jahre nicht verschwunden war.

Mit ein paar Mausklicks fand er Suzannes Adresse heraus. Kreuzberg. Na klar. Kreuzberg war das Klischee ihrer Zeit gewesen.

Er spielte schwitzend mit dem Gedanken, ihr eine E-Mail zu schreiben. „Hey, ich habe Deine Bilder im Netz gesehen.“

Er glaubte, wenn sie sich irgendwo begegnen würden – zufällig, in einem Straßencafé in Berlin – wären sie augenblicklich wieder vertraut. Sie würden sich ansehen, sich erkennen, sehr langsam anfangen zu strahlen, einander umarmen und sich dann mitten auf der Straße küssen, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres.

Er schrieb ihr nicht. Versuchte nicht, sie „zufällig“ in Berlin zu treffen.

Er kaufte sich eine Jeans und ein paar Leinenhemden und sah darin überraschend gut aus. Auf einem Markt erstand er ein neues Lederband, fädelte die tibetischen Perlen darauf und band es sich um den Hals. Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte er an Straßencafés entlang, trank einen Espresso, ließ sich von der Sonne bescheinen und fühlte sich – vollständig.

Der Schmerz blieb. Aber dort, in seinem Inneren, wo es immer wie Lava gebrodelt hatte, war jetzt ein tiefer, blauer See.

Er war immer ihr Geliebter gewesen. Er war es noch heute. Und damit war es gut.

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