Von Nils Duerr

Vorsichtig nahm er das auf seiner Brust eingeschlafene Baby und legte es in das Babybettchen. Danach ging er ins Wohnzimmer.

„Er schläft jetzt“, sagte er zu Jana.

„Super. Musst du los?“

„Ja, leider. Ich habe keine Lust.“

„Du hast aktuell nie Lust auf deine Arbeit“, erwiderte sie.

Leider stimmte das. Langsam ging er zum Auto. Er hatte das Gefühl, einfach nicht schneller gehen zu können, selbst wenn er versuchen würde, sich zu zwingen. Es war, als ob er sich durch zähen Schlamm bewegen musste oder seine Arme und Beine nur Bewegungen in Zeitlupe ausführen könnten.

Zum Glück musste er heute in Marl in der Klinik nur 2 Vorsorgeuntersuchungen machen. Letzte Wochen waren es 5 gewesen. Trotzdem war er immer etwas nervös, Babys zu untersuchen seit der Geburt von Elias. Das war jetzt sechs, nein, sieben Wochen her. 

Nach der Geburt hatte Elias einmal kurz gequengelt und dann keinen Laut mehr von sich gegeben. Die Hebamme und die Frauenärztin waren aber mit Jana beschäftigt. Dammriss. Er wurde immer unruhiger und verunsichert. Was war mit dem Baby los. Warum schaute die Hebamme nicht nach dem Baby. Sie waren hierher zur Entbindung und er nicht zum arbeiten gekommen. Es hatte ihm Angst gemacht. Warum schrie das Baby einfach nicht?

Während der Schwangerschaft war nicht alles einfach gewesen. Jana war so bestürzt gewesen, schwanger zu sein und hatte nicht gewusst, wie sie damit umgehen sollte, dass sie aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen war. Sie hatte ihm gesagt, dass sie nicht wüsste, ob sie noch irgendwelche Gefühle für ihn habe. Abends war sie, nachdem die beiden großen Kinder ins Bett gebracht worden waren, immer direkt im Arbeitszimmer verschwunden, wo sie jetzt immer schlief. Nähe oder Gespräche, geschweige denn eine Aussprache waren ausgeblieben. Er hatte damals keine Ahnung gehabt, wie er damit umgehen sollte. Ehrlich gesagt, er hatte immer noch keine Ahnung, wie er damit umgehen sollte. Einfach da bleiben und aushalten?

Und jetzt gab dieses Baby auf, welches er sich eigentlich sehr freute, welches ihm aber auch soviel Kummer bereitet hatte, in seiner Ehe keinen Muckser von sich.

Schließlich hatte er sich hinter Jana und dem Gebärhocker hervor gekämpft und schnappte sich sein Baby, legte es auf die Versorgungseinheit und hörte es ab. Keine Atmung, langsamer Herzschlag. Auch festes abtrocknen des Babys brachten keine Besserung. Eigentlich kannte er die Erstversorgung von Neugeborenen bisher nur in der Theorie, ein Notfall war bisher in seiner Ausbildung nicht vorgekommen, trotzdem tat er, was er gelernt hatte. Irgendwann wurde dann doch die Hebamme aufmerksam und fragte, ob sie den Anästhesisten zur Hilfe rufen sollte. Er hatte nur genickt.

Als Elias etwa 10 Minuten alt war, schlurfte ein verschlafen wirkender Arzt um die Ecke. Elias sah mittlerweile nicht mehr blass aus und schien auch seit einiger Zeit selbständig zu atmen. „Na, da werde ich hier wohl nicht mehr gebraucht“, sagte der Neuankömmling als Reaktion auf die Szene, die sich ihm bot, und verschwand wieder.

Jetzt saß Niklas im Wagen, und wieder fiel ihn diese bleierne Schwere an, die er seit Wochen immer verspürte, wenn er zur Arbeit fahren sollte. Zusätzlich verspürte er eine wahnsinnige innere Unruhe, denn schließlich könnte ja jederzeit etwas auf der Arbeit passieren, dem er nicht gewachsen wäre. Doch all dies war bei weitem nicht das Schlimmste. Immer öfter fragte er sich, warum er überhaupt lebte. Ob es nicht besser wäre, einfach still und leise aus dem Leben zu treten. Wenn nachts alles ruhig im Haus war und er sich mit nichts ablenken konnte, ließ sich der Gedankengang sogar noch schwerer abschütteln als tagsüber. Nichts half, um ihn loszuwerden. Eine Durchbrechung der Gedankengänge, was er als großes Erleichterung verspürt hätte, schien außerhalb seiner Vorstellungskraft. Niklas hatte zu allen Alternativen, die er dazu im Kopf durchspielte, nicht den Mut. Nichts schien ein sicheres Ergebnis mit minimalen Schmerzen zu garantieren und einem einfach nur Einschlafen und nie wieder Aufwachen. Radikale Methoden, wie von einer Brücke zu springen oder sich zu erhängen, machten ihm zu sehr Angst. Vor allem wollte er keine Lösung des immensen Druckes, den er verspürte, auf Kosten eines Fehlschlages. Was würden seine Kollegen, seine Familie und vor allem was würde Jana denken? War er dann ganz unten durch? Würde er als großer Jammerlappen gelten, der sich einfach nur nicht zusammenreißen konnte? Seine Mutter würde ihm bestimmt vorwerfen, es entweder nicht genug versucht zu haben, mit Jana klarzukommen oder noch schlimmer, sie würde ihm sagen, dass er sich doch dann endlich trennen solle. Aber das wollte er nicht. Oder konnte er es nur nicht? War er einfach nur nicht mehr in der Lage, überhaupt eine Entscheidung zu treffen?

Trotzdem hatte er immer wieder beim Einkaufen darauf geachtet, etwas Zusätzliches an Lebensmitteln einzukaufen für ein, zwei schnelle Gerichte sollte er sich doch trauen, aktiv zu werden. Dann hätten Jana und die Kinder etwas zu essen, wenn er nicht mehr da sein würde.

Plötzlich wurde Niklas klar, dass er immer noch nicht losgefahren war. Auch das geschah immer häufiger, dass er etwas tun wollte und dann feststellte, dass er es einfach nicht angefangen hatte. Oder das er einfach plötzlich einem dieser unangenehmen Gedanke nicht hatte ausweichen können und sich alles, was er denken konnte, auf diese kleine Welt zusammenzog. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass endlich mit dieser Belastung Schluss sein würde.

Und dann waren da diese Autofahrten zur Klinik in Marl. Er arbeitete dort nicht, sondern seine Klinik hatte mit der Klinik in Marl vereinbart, an einem Tag jedes Wochenende dort die Vorsorgeuntersuchungen für die Kinder zu machen, die am Wochenende entlassen werden könnten. Dieses Wochenende war er dran, dort die Kinder zu untersuchen. Die Fahrt dauerte von zu Hause aus etwa 25 Minuten. Viel zu viel Zeit, um nachzudenken.

„Warum lebe ich überhaupt noch? Ich bin doch nichts wert. Bei der Geburt von Elias hätte so viel schief gehen können. Jana liebt mich doch sowieso nicht mehr.“ Und so ging es immerzu weiter. „Wenn ich jetzt einfach vor den Baum da vorne fahren würde,…“ Doch wieder verpasste er eine solche Chance, wie es ihm vorkam. Er hatte Angst, nicht sofort tot zu sein. Machte sich vor allem Sorgen, nur schwer verletzt zu sein und irgendwann schwer behindert aus einer Klinik entlassen zu werden. Außerdem wäre das Auto dann kaputt, und was sollte Jana dann machen,…

Wenn er sich doch nur etwas von diesen sich ständig aufdrängenden Gedanken befreien könnte. Eigentlich ging ihm im Moment jede Art von Musik aus dem Radio auf die Nerven. Naja eigentlich jede Musik. Außer… Niklas machte die seit Wochen in Dauerschleife laufende CD von den Piano Guys an. Es gab ein Lied, welches er auch mal eine ganze Fahrt nach Marl und zurück hörte. Immer und immer wieder.

Wenn er das Stück „Waterfall“ anstellte, fühlte er sich immer ein klein wenig besser. Die Musik beruhigte ihn. Irgendwie gab ihm die Musik Kraft. Bei dem Stück konnte er sich immer die Verwirbelungen, kleinen Wellen und das in Tiefe stürzende Wasser eines kleinen Flusses vorstellen. So wie das Stück hieß. „Waterfall“ halt.

 

„Unsere Mission wird es immer sein, Musikvideos zu produzieren, die inspirieren erheben und die Welt zu einem besseren Ort machen. Wenn wir auch nur das Leben einer Person positiv beeinflussen können, war es uns alles Wert“ https://thepianoguys.com/pages/about-tpg 

 

https://youtu.be/8P9hAN-teOU

 

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