Von Marielies Saatkamp

„Sag mal, was hörst du denn da? Klingt total traurig. Ist das diese CD hier?“ „Ja. Winterreise, von Franz Schubert.“ „Klingt nach Eis, Schnee und Verzweiflung.“ „Ja, soll es ja auch. Schubert hat sich in die Einsamkeit zurückgezogen, um sie zu vertonen. Dann hat er seinen Freunden angekündigt, er werde ihnen ‚einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen‘, die ihm dennoch sehr gut gefallen.“ „Schön klingen sie ja. Aber Eis, Schnee, Tränen, wird dir das nicht zu viel?“ „Na ja, andauernd könnte ich sie jetzt nicht mehr hören. Aber es gab eine Zeit, da haben sie mich ungemein getröstet. Gerade diese Lieder.“ „Erzählst du’s mir?“

*

Endlich Ferien! Alles ist gepackt für einen Traumurlaub auf einer dänischen Insel. Zwei Frauen, zwei Hunde. Eva ist schon dort, in ihrem üblichen Quartier, und hat für mich ein gemütliches Bauernhaus angemietet. Spaziergänge und Strandeindrücke, Fisch vom Markt und ein paar gute Bücher zum Lesen. Ich brauche diesen Urlaub und freue mich drauf.

Den Hund holen, bei den Eltern Tschüs sagen, und dann geht’s los. Doch Mutter ist so blass, ich mache mir Sorgen. „Du kannst ruhig fahren“, sagt mein Bruder. „Wir sind ja hier.“

Stau durch Schleswig-Holstein. Erst abends und halb acht an der Fähre nach Läsö. Am besten sage ich Mutter kurz Bescheid. Sie hat darum gebeten. Also rufe ich sie an. „Wo bist du nur? Ich mache mir schon Sorgen!“ – „Alles ok, Mutter, war einfach Stau. Ich gehe jetzt auf die Fähre. Morgen melde ich mich und erzähle, wie alles so ist.“ – „Dann hab einen schönen Urlaub“, sagt sie.

Das war das letzte, was sie je zu mir gesagt hat. Eva hat mich abgeholt, ich habe mein Reich in Besitz genommen, dieses gemütliche Haus mit der Obstwiese. Am nächsten Tag, einem Sonntag, hatten wir uns für einem langen Strandspaziergang verabredet. Das perfekte Urlaubsglück. Davon wollte ich Mutter erzählen. Wollte ihr das Haus beschreiben, die Insel, so weit ich sie erkundet hatte. 

Aber mein Bruder meldete sich am Telefon. „Mutter ist im Krankenhaus. Ein Rettungswagen hat sie heute Morgen abgeholt.“ – „Soll ich direkt kommen?“ – „Bleib erstmal, wo du bist. Sie wird bestens versorgt. Die Situation ist ernst, aber nicht unmittelbar bedrohlich.  Du bist ja gerade erst angekommen.“

Wir verabreden, dass ich mir noch einen Tag vor Ort gönnen sollte, den Montag. Noch ein bisschen ausruhen, bevor ich die lange Strecke nach Hause wieder fahre. Diese endlosen Kilometer durch Dänemark und Schleswig-Holstein, die mir noch in den Knochen sitzen. Noch einen Urlaubstag. 

Am Montag um halb vier nachmittags stirbt Mutter. Alle sind bei ihr, ich leider nicht. Ich packe meine Sachen, ich fahre durch die Nacht. Eigentlich will ich gar nicht ankommen, eigentlich darf das alles gar nicht passiert sein.  Die leisen Schnaufgeräusche des Hundes beruhigen mich ein wenig, ich versuche sogar, auf einem Rastplatz ein wenig zu schlafen, als ich die Augen nicht mehr offenhalten kann.

Am Dienstagmorgen bin ich wieder zu Hause. Rege Betriebsamkeit, kaum Zeit für Tränen.

Ich finde mich im Auto wieder mit den Schwägerinnen, auf dem Weg zum Blumenhändler. Der Blumenschmuck für die Trauerfeier muss besorgt werden, alles muss organisiert werden.  Auf Läsö habe ich Heidebilder für Mutter gemacht. Ich wähle einen Heidekranz. Es ist Ende August.

In der Friedhofskapelle sehe ich Mutter wieder – bereits aufgebahrt. Das ist sie nicht. Das ist eine Wachsfigur. Eine Hülle.

Am Abend kommt der Pfarrer zur Besprechung der Trauerfeier. Alle sitzen zusammen, reden von Mutter. Ich habe vorher im Heizungskeller die Wäsche entdeckt, die sie noch aufgehängt hat. Da hing ihr „fleißiges Schürzchen“. Immer trug sie so ein halbes Schürzchen, sie hat es erst im Tode abgelegt. Sie war gründlich, die perfekte Hausfrau. Krieg und „schlechte Zeit“ haben verhindert, dass sie studieren konnte und Ärztin wurde, so lenkte sie ihre Energie auf die Familie.

Für uns ist es schon schwierig genug, aber mein Vater begreift gar nicht, was passiert ist. Der wichtigste Mensch in seinem Leben ist fort. In diesem Herbst und Winter muss sich die Welt neu ordnen, aber Vater macht da nicht mit. Er lässt keinen Zweifel daran, wo er jetzt sein will: Bei ihr.

„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“  Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ ist die Begleitmusik für meine Trauer. Da zieht einer aus. Eben war ihm noch „der Mai gewogen, mit manchem Blumenstrauß.“ Jetzt lässt er sich ein auf eine Wanderung, die ihn fernab von allem führt, was ihm je etwas bedeutet hat. Er vermeidet die Wege, „wo die andren Wanderer geh’n“. 

Ich trete meine eigene Winterreise an, durch Nacht, Eis und Schnee. Und möchte nur diesen Winter hinter mich bringen. Vielleicht wird es im Frühling, im Sommer endlich besser. Vielleicht wird es mit Vater besser. Nach der Beerdigung muss die Trauer erledigt werden. Ich schleppe mich durch die Tage, arbeiten, für Vater sorgen, gelegentlich mal eine kurze Verschnaufpause in meiner eigenen Wohnung, ein Treffen mit Freundinnen und Freunden. In dieser langen Nacht fühle ich mich allein. „Es zieht ein Mondenschatten als mein Gefährte mit.“

Im ersten Trauerjahr ist alles das erste Mal. Das erste Weihnachten. Zum ersten Mal Mutters Geburtstag – ohne sie. 365 Tage ohne sie, das scheint das Mindeste zu sein, war wir durchleben müssen. 

Nach dem schnellen Abschied von Mutter beginnt der langsame Abschied von Vater. Weil er sich einfach weigert, weiterzuleben. Das macht er ganz deutlich, verweigert Nahrung, bis wir ihn schließlich ins Krankenhaus bringen müssen. Auf seinen Wunsch. Er hat gemerkt, dass er nicht verhungern kann, das schafft er nicht. Er ist ein bisschen wie der „Leiermann“ in der Winterreise, der am Dorfrand steht und von allen unbemerkt seine traurige Musik macht. Ihn umgibt eine Einsamkeit, die wir nicht durchdringen können, so sehr wir das auch wollen. Die Untersuchung in der Gerontopsychiatrie bestätigt, was wir schon befürchtet haben: beginnende Demenz. 

Schließlich folgte er nach einem knappen Jahr meiner Mutter. In einem Jahr hatte sich mein Leben völlig umgekrempelt, aber meine Trauer um die beiden geriet ein ruhigeres Fahrwasser. Meine Winterreise, die Verzweiflung über den plötzlichen Tod der Mutter und die Sorge um den Vater, war damit zu Ende. Ich höre den Liederzyklus immer noch gern und bin in Gedanken bei meinen Eltern.