Von Björn D. Neumann

Tom war spät dran. Hastig zog er das schwarzgelbe Trikot über den Pullover und wickelte einen Schal in den gleichen Farben um den Hals. Im Laufen knallte er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss und stürmte das Treppenhaus hinunter, um auf Höhe der ersten Etage Frau Kalinowski in die Arme zu laufen. Die als Hausdrache verschriene 80-jährige Dame fing auch gleich an zu zetern.

„Pass doch auf, Junge. Was für ein Benehmen. Und die Tageszeiten kennst du wohl auch nicht?“

„Hä?“ Tom sah sie erstaunt an.

„Na, sonst hättest du mir ja sicherlich einen guten Morgen gewünscht, oder?“

„Ja, ja, guten Morgen.“ Tom verdrehte die Augen und lief weiter die Treppen hinunter. „Schrecklich, dieses Jungvolk!“, hörte er noch als aus der Haustür stürmte.

Auf dem Weg

„Mensch, wo bleibst du denn?“, fragte Lukas, einer der drei schwarzgelb gekleideten Jugendlichen, die an der Bushaltestelle auf ihn warteten. 

„Habe verschlafen. Ist gestern ein bisschen spät geworden“, grinste Tom verlegen.

„Irgendwann verpasst du noch deine eigene Beerdigung“, frotzelte jetzt Lisa, das Mädchen der Vierergruppe. Kennengelernt hatten sich die Freunde im Stadion auf der Südtribüne, dem Stimmungs-Epizentrum des BVB. Alle gehörten sie derselben Ultra-Gruppe an. Den „BVB-Outlaws“.

„Vielleicht hat er sich ja diesen komischen Virus eingefangen. Wie heißt der noch gleich? Cohorta?“, fragte jetzt Sven.

„Oh man, Sven. Corona. Das sollte man aber inzwischen mitbekommen haben.“ Lisa seufzte.

„Ja, ja, meinetwegen. Aber wir müssen jetzt wirklich in den Tempel. Je früher wir da sind, umso mehr Spenden können wir für die nächste Choreo sammeln.“

„Auf geht es“, pflichtete Tom ihm bei und sang: „Es war Liebe auf den ersten Blick!“

„Nur für dich Borussia verpass‘ ich keinen Kick“, stimmten die anderen mit ein, als sie sich auf den Weg zur U-Bahn machten.

Durch den Sturm

Als das Telefon klingelte wurde Tom aus den tiefsten Träumen gerissen. „Ja“, meldete er sich knapp.

„Hast du das gehört? Die wollen uns das Derby wegnehmen. Erst die Auswärtsfahrt nach Paris und jetzt das Derby.“

„Wer will uns was wegnehmen? Wovon sprichst du überhaupt, Sven?“

„Die setzen die Bundesliga aus. Ausgerechnet vorm Derby. Die spinnen doch. Wegen einer Erkältungswelle. Ich fasse es nicht.“

„Jetzt beruhige dich, Sven. Erstmal ist das mehr als eine Erkältung. Guck dir bitte mal die Bilder aus Bergamo an. Willst du behaupten, dass die ganzen Menschen an einer Erkältung gestorben sind? Und außerdem war doch damit zu rechnen. Die Frage war doch nur wann und nicht, ob der Spielbetrieb eingestellt wird. Das nächste Derby kommt bestimmt.“

„Deine Ruhe möchte ich haben. Es war die Gelegenheit, den Sargnagel für die Blauen vor 80.000 Zuschauern einzuhämmern. Das kommt bestimmt nicht wieder.“

„Abwarten, Sven.“

Hab keine Angst im Dunkel.

„So Leute, damit eröffne ich die erste Zoom-Sitzung der BVB-Outlaws. Ich hoffe allen geht es gut im Lockdown. Ab dem nächsten Wochenende legt die Bundesliga wieder los. Mit Geisterspielen. Wir haben ein Statement vorbereitet, in dem wir diese Vorgehensweise kategorisch ablehnen. Keine Spiele ohne Fans. Das haben wir im Vorstand einstimmig beschlossen und ich hoffe, das findet eure Zustimmung.“ Zustimmendes Gemurmel war über die Kopfhörer zu vernehmen. „Die Frage ist jetzt, wie wir uns verhalten. Es gab Ideen, sich vor dem Stadion zu versammeln und zu protestieren. Ich halte das nicht für sinnvoll. Pandemiebedingt und auch fanpolitisch halte ich das für problematisch. Die Medienhetze wegen des „diskriminierten“ Milliardärs vor Corona, hat uns genug geschadet. Hat jemand andere Ideen? Ja, Tom, du?“

„Hallo Leute, wir alle wissen ja, wie uns der Lockdown deprimiert, aber es gibt Menschen, die trifft das noch viel härter. Alle von uns haben Ommas und Oppas in der Nähe wohnen, die komplett alleine sind und sich nicht mehr trauen rauszugehen. Lasst uns denen helfen. Für sie einkaufen gehen und zumindest mit Abstand ein paar nette Worte an sie richten.“ Tom erntete für seine Idee großes Johlen und Applaus.

„OK, ich denke, Toms Idee ist angenommen. Dann lasst sie uns in die Tat umsetzen.“

Es erstrahlt ein goldener Himmel.

Tom lenkte den gemieteten Sprinter auf den Parkplatz. Es war die letzte Kiste, die er heute auszuliefern hatte. Und die glücklicherweise auch noch in seinem Haus. Und er musste die gut gefüllte Einkaufskiste auch nur in die erste Etage bringen. An die Tür mit dem Namensschild „Kalinowski“. Als er klingelte hörte er schon ein „Ja bitte?“ hinter der Tür. 

„Frau Kalinowski, ihre Einkäufe. Ich stelle sie Ihnen vor die Tür. Die Abrechnung liegt mit dem Wechselgeld im Umschlag.“

„Ach Tom, guter Junge. Ich danke dir. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen sollte. Nimm dir bitte das Wechselgeld.“

„Nix da. Wenn der Spuk vorüber ist, laden Sie mich mal zum Kaffee ein.“

„Du glaubst gar nicht, wie dankbar ich dir bin, Junge.“

„Keine Ursache Frau Kalinowski. Dafür sind Nachbarn doch da.“

Die Lerche singt.

Der Sommer kam und die Beschränkungen wurden gelockert. Wie versprochen lud Frau Kalinowski Tom zum sonntäglichen Kaffee und selbstgebackenen Butterkuchen. 

„Na, was macht der BVB?“, fragte Erna Kalinowski einen bass erstaunten Tom.

„Sie interessieren sich für Fußball? Jetzt bin ich platt.“

„Was glaubst du denn?“ Mühsam erhob sich Erna aus dem Sessel und kramte eine angelaufene Blechschatulle aus dem Wohnzimmerschrank. „Ich war früher selber im Stadion. Naja, mein Erwin hat mich mitgenommen, wenn sein Freund Oskar mal nicht konnte. Sie hatten Dauerkarten auf der Osttribüne. Block 46, Reihe 12, Platz 12 und 13. Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen.“ Erna öffnete die Schatulle und zeigte Tom zwei Dauerkarten aus der Saison 1976/77. 

„Wow, die Aufstiegssaison.“

„Richtig, das Westfalenstadion war noch ganz neu. Und schau mal hier.“ Erna kramte eine alte Schwarzweiß-Fotografie hervor. Ein junges Mädchen und ein schmucker junger Mann lächelten in dickstem Gedränge in die Kamera. „Da war ich noch ein Backfisch. Die Meisterfeier 1956. Ganz Dortmund war auf den Beinen und da habe ich meinen Erwin kennengelernt.“

„Na. sie waren ja mal ein richtig hübsches Mädchen“, frotzelte Tom.

Gespielt boxte Erna ihn auf den Arm. „Erlaube mal. Was heißt hier ‚war‘? Guck mal hier, dass ist Lothar.“ Das nächste Bild zeigte Erna, wie sie ein Baby in den Armen hält. „Weißt du wann der geboren wurde? Am 4. Dezember 1963“, beantwortete sie die Frage selbst. „An dem Tag hat der BVB die damals weltbeste Mannschaft, Benfica Lissabon mit Eusebio, mit 5:0 aus der „Roten Erde“ gefegt. Mein Erwin hatte Karten, aber konnte nicht hin, weil ich in den Wehen lag. Aber dafür durfte er den Jungen nach Lothar Emmerich benennen.“ 

„Sie haben einen Sohn? Den habe ich ja noch nie hier gesehen.“ Tom merkte, wie sich Erna zusammenkrampfte und bereute schon die Frage gestellt zu haben.

„Ja, der Lothar. Es war immer schwierig mit ihm und Erwin. Irgendwann hatten sie sich so gestritten, dass der Junge nicht mehr nach Hause kam. Anfangs hat er mir noch zum Geburtstag geschrieben, aber irgendwann brach auch das ab. Ich glaube er wohnt jetzt mit seiner Familie irgendwo im Sauerland.“

Du bist niemals alleine.

„Ich kann doch in meinem Alter nicht mehr ins Stadion, Junge. Wo denkst du denn hin?“

„Paperlapap, keine faulen Ausreden. Wir fahren sie quasi direkt vor die Tribüne und zur Not trage ich sie die Treppen rauf.“ Tom ließ keinen Zweifel daran, dass er keine Widerrede duldete.

„Mein Gott, so eine Aufregung“

Wie versprochen, brachte Tom Erna unbeschadet ins Stadion. Die Plätze waren auf der Osttribüne. Es waren die Plätze 11 bis 13 in der zwölften Reihe. Erna konnte es nicht fassen. 

„Wie hast du das gemacht?“

„Sagen wir – Beziehungen.“

„Tom, du bist ein Goldstück, weißt du das? Für wen ist eigentlich der dritte Sitzplatz?“

„Och, das wird eine Überraschung.“ Tom grinste.

„Mein Bedarf an Überraschungen …“, Erna stockte. Vor ihr stand ein Mann. Er musste so um die Mitte 50 sein. Die Augen, es waren Erwins Augen, waren das untrügliche Zeichen. Es war Lothar. „Lothar … Wie kommst du denn hier her. Mein Gott …“ Ihre Stimme erstickte und Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie plötzlich ihrem Sohn gegenüberstand, den sie über 20 Jahre nicht mehr gesehen hatte.

„Mutter, ich …“

„Schhh. Sag jetzt nichts.“ Erna schloss ihren Jungen in die Arme.

Sie setzten sich auf die Plätze 12 und 13. Erwins alte Plätze. Tom wollte den Moment nicht stören und überließ Mutter und Sohn sich selbst. Es war kurz nach 15 Uhr. Fans mit großen Schwenkfahnen betraten den Rasen. Mittendrin stand, wie immer, der Stadionsprecher Nobby Dickel. 

„Ich begrüße die besten Fans der Welt. Ich begrüße die Fans von Borussia Dortmund. Ganz herzlich begrüßen möchte ich Erna Kalinowski, die heute mit 81 Jahren nach langer Zeit wieder das Stadion besucht. Und wie immer vor der Mannschaftsaufstellung – You’ll never walk alone.“ Die ersten Takte erschallten aus den Stadionlautsprechern und wie auf Signal reckten 80.000 Menschen gemeinsam ihre Schals in den Himmel. Gerade nach den Einschränkungen der Pandemie, nach Geisterspielen und Teilausschluss der Fans, machte es den Zuschauern umso mehr bewusst, wie sehr man diesen Zusammenhalt vermisste und es jetzt genoss, wieder diese Gemeinschaft zu spüren. Nicht wenige hatten nach dieser langen Zeit Tränen in den Augen. Auch Erna und Lothar, aber nicht aus diesen Gründen. Tausende Kehlen stimmten ein: „When you walk, through a storm …“. Erna nahm Lothars Hand fest in die ihre und drückte sie.

„Mama, es tut mir leid.“

„Ich weiß, mein Junge. Alles ist gut.“ Dann nahm sie mit der anderen Toms. „Ich danke dir, Tom.“

„Keine Ursache, Frau Kalinowski, wir Borussen halten doch zusammen.“

„Fest und treu“, stimmte Lothar augenzwinkernd zu.

Inspiriert von „You’ll never walk alone“ aus dem Musical „Caroussell“ und Hymne des Liverpool F.C. und Millionen Fußballfans.

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