Von Franck Sezelli

Eine sanfte Stimme holte mich aus tiefem Schlaf. Woher kam sie? Ich lasse mich schon lange nicht mehr vom Radio wecken und ich schlafe seit einiger Zeit auch meistens allein. Rings um mich wurde es langsam heller, leise Musik erklang. In alter Gewohnheit wollte ich mich vor dem Aufstehen noch einmal umdrehen, aber es ging nicht.

Was war das? Ich lag weich und bequem, hatte das Gefühl zu schweben, aber ich konnte mich nicht bewegen. Doch! Die Augen hatte ich öffnen können, ich atmete und dabei hob sich mein Brustkorb, die Hände und Arme und was sonst so normalerweise morgens erwachte, spürte ich allerdings nicht. Seltsamerweise überkam mich trotz dieser unerwarteten und eigentlich widrigen Umstände keine Angst. Im Gegenteil durchströmte mich eine Art warmes Wohlgefühl. Ich hob den Kopf – es ging! – und schaute mich um. Das war nicht mein Bett! Über mir und ringsum Glas zwischen stabilen Metallstreben. Ich lag in einem gläsernen Sarg. Jedenfalls kam es mir so vor. Bin ich Schneewittchen?, schoss mir ein völlig absurder Gedanke durch den Kopf. Da schob sich ein freundlich lächelndes Frauengesicht in mein Blickfeld.

»Hallo Jonas«, sagte das Gesicht zu mir, »ich freue mich, dass du aufgewacht bist. Ich bin Lena und werde dich in den nächsten Tagen begleiten.« Die Stimme erinnerte mich angenehm an meine Jugendliebe Leonie. »Bleib noch etwas liegen, bis alle Körperfunktionen wieder erwacht sind, dann helfe ich dir aus der Schlafkapsel.«

Es dauerte nicht lange, da öffnete Lena den Deckel des Gehäuses und half mir heraus. Ich hatte auf einer gallertartigen Masse gelegen und fühlte mich ziemlich schwach. Gern nahm ich das Angebot an, mich auf die junge Frau zu stützen. Sie trug einen goldgelben, eng anliegenden Anzug und gefiel mir. Lena öffnete mir die Tür zu einer engen Kabine und ließ mich darin allein. Warme Wassertröpfchen, die einen verführerischen Duft ausströmten, hüllten meinen Körper ein. Es schien eine hochmoderne Duschkabine zu sein. Erst jetzt fragte ich mich, wo ich hier war. Ich kannte das alles nicht. War ich wirklich ICH? Ich betastete mich überall, meine Haut fühlte sich glatter und geschmeidiger an, als ich es gewohnt war. Mein Gesicht spiegelte sich schwach in der feuchten Kabinenwand und es kam mir eigentlich vertraut vor. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.

Als Lena die Tür wieder öffnete, wurde mir bewusst, dass ich nackt vor ihr stand, aber ich mich überhaupt nicht schämte. Das war doch nicht ich! Ich wusste, dass ich in diesen Dingen immer etwas gehemmt war. Jetzt aber kam ich mir vor wie ein kleiner Junge vor seiner Mutter, ganz voller Vertrauen.

»Was ist eigentlich hier los? Wo bin ich? Was ist passiert?«

Lena sah mich erstaunt an und fragte: »Erinnerst du dich an nichts, Jonas?«

»Nein, woran soll ich mich erinnern?«

»Wart’s ab! Das kommt alles wieder.«

Was soll wiederkommen?, überlegte ich. Ich habe vorhin mein vertrautes Bett vermisst, habe mich an Leonie erinnert, die ich schon Jahre nicht mehr gesehen hatte. Aber das hier ringsum und diese attraktive Frau kannte ich nicht.

»Bevor deine Erinnerung wieder voll da ist, erzähle ich dir schon mal etwas und helfe dir damit auf die Sprünge.«

Während sie mit den Erklärungen begann, führte sie mich durch einen langen Gang schließlich in einen gemütlich eingerichteten Raum. Dort durfte ich in eine Art Morgenmantel aus einem blauen Stoff schlüpfen, der meine Haut angenehm umschmeichelte. Lena und ich nahmen in Sesseln Platz.

»Du warst in einem Kryotiefschlaf und bist völlig planmäßig geweckt worden. Wegen der tiefen Temperatur ist der Stoffwechsel stark heruntergefahren. Es dauert naturgemäß eine Weile, bis sich alle Lebensfunktionen wieder normalisieren. In diesem Prozess kehrt auch das Gedächtnis zurück.«

»Warum war ich im Koma? Und wie lange? Gab es einen lebensbedrohlichen Unfall?«

»Nein, nein, überhaupt nicht, dieser Kälteschlaf ist nur so ähnlich wie ein Koma, mit dem Winterschlaf mancher Tiere vergleichbar. Du warst fünf Jahre sozusagen eingefroren.«

»Was? Fünf Jahre? Was soll das? Bin ich ein Versuchskaninchen?«

»Aber nein! Du musst das doch noch von der Vorbereitung der Expedition wissen.«

Expedition? Bei diesem Stichwort dämmerte etwas in meinem Kopf. Es gab einen langen Lehrgang, an dem ich teilgenommen hatte. Ich grübelte und manches wurde klarer. »So langsam tauchen Erinnerungen wieder auf. Ich war Teilnehmer eines astronomischen Seminars.«

»Na, siehst du«, sagte Lena und lachte mich an, »jetzt weißt du wieder Bescheid, du gehörst zur Expedition Columbus, die seit 2078 zum Proxima Centauri unterwegs ist.«

 »Ist das nicht der sonnennächste Stern, reichlich vier Lichtjahre von uns entfernt, ein Roter Zwerg? Das heißt, wir sind in einem interstellaren Raumschiff …«

Ein Roboter rollte heran, servierte das Essen und unterbrach mich in meinen Gedanken.

»Wundere dich nicht über die kleine Portion, aber nach dem Zurückschrauben des Stoffwechsels kann er nur langsam wieder intensiver werden. Wie nach einem Fasten.«

»Das ist mir klar, Lena, aber du kannst mir ja Gesellschaft leisten und mit mir essen.«

Lena schmunzelte. »Machst du Witze oder weißt du das wirklich nicht mehr und hast auch nichts bemerkt? Ich bin eine Androidin oder auch Gynoide! Und habe dich beim Start vor fünf Jahren schon betreut.«

»Oh, das ist mir gar nicht aufgefallen – und die Erinnerung ist doch noch nicht ganz zurück.«

»Natürlich verfüge ich über eine gute KI …« Lena freute sich – oder zumindest wirkte es so. Denn Emotionen kannten die KI-Androiden nicht, nur deren Beschreibungen. »Jetzt müssen wir aber erst einmal ein wenig Sport treiben, um deinen Körper wieder fit zu machen.«

 

Lena ging mit mir in einen Fitnessraum, der sich von einem irdischen kaum unterschied. Sie legte die Übungen fest, die ich machen sollte, und kontrollierte meine Fortschritte. Anschließend begleitete sie mich in die Schwimmhalle des Raumschiffs. Eine Stunde lang musste ich neben ihr ruhig meine Bahnen ziehen. Nur zwei kleine Pausen gönnte sie mir. Außer mir waren nur Frauen im Wasser, das fiel mir plötzlich auf. »Sind das alles echte Frauen? Und wo sind die Männer?«

»Ich hoffe, du willst mich nicht beleidigen? In deinen Augen bin ich jetzt auf einmal nicht echt

»So habe ich das nicht gemeint, Lena. Ich sehe doch, dass du eine sehr intelligente und attraktive Androidin bist.«

»Schon gut, Jonas. Die Hälfte der zehn Frauen hier sind wie ich KI-Gynoiden und unterstützen die ebenfalls erst kürzlich aufgeweckten menschlichen Frauen. Sie haben ja auch fünf Jahre geschlafen und bleiben nun zwei Jahre aktiv.«

»Und wo sind nun die Männer?«

»Hast du das auch schon wieder vergessen? Ihr seid für die Phase der Reproduktion aktiviert worden. Danach werdet ihr wieder in den Tiefschlaf versetzt. Die Frauen nach zwei Jahren, wenn ihre Kinder zur Betreuung in den Kindergarten kommen. Du bleibst in den nächsten sechs Monaten der einzige Mann. Die fünf hatten dich ausgewählt. Sei froh, dass du als Mann überhaupt in der Startbesatzung dabei sein darfst. Es gab Überlegungen, aus ökonomischen Gründen lieber eingefrorenes Sperma oder gar Embryonen mitzunehmen. Eine Umfrage unter den vielen hundert Kandidatinnen für diese interstellare Expedition hat aber ergeben, dass 72% nicht auf Männer verzichten wollten. Das aktive Leben ist wegen der Kryophasen für die Besatzung sehr verkürzt. Die Frauen wollten gern typische Jugenderfahrungen machen und später auf sie zurückblicken können. Deswegen gab es den Kompromiss: viele Frauen, wenige Männer. In zehn Jahren wirst du wieder geweckt und sollst in der Ausbildung des Nachwuchses mitwirken. Vorher erleben alle anderen Frauen und Männer phasenweise ihre Aktivierung. Es wird dann viele Kinder geben.«

Mich beschlich ein eigenartiges Gefühl und ich grübelte: Fünf Frauen und nur ein Mann. Das sollte vielleicht kein Problem sein. Oder? Ich kann doch nicht in die Moralvorstellungen meiner Großeltern verfallen. Die uralte Form der zweigeschlechtlichen Ehe mit Treuegelübde und dergleichen gibt es aus gutem Grund schon seit Mitte des 21. Jahrhunderts nicht mehr.

Ich fühlte mich auf einmal sehr einsam und versank in Gedanken.

 

An diesem Tag stand nicht mehr viel auf dem Programm. Zunächst las Lena mir die Erzählung ›Der kleine Prinz‹ von Antoine de Saint-Exupéry vor. Ich kannte dieses bedeutsame Märchen noch nicht und nahm mir vor, es demnächst noch einmal selbst zu lesen, um tiefer in die darin enthaltenen Erkenntnisse einzudringen. Meine Betreuerin zeigte mir noch den Raum der Weisheit, in dem die Besatzungsmitglieder das geballte Wissen der Menschheit, das in Billionen von Speichereinheiten vorlag, ansehen, lesen oder hören konnten. Hier würde ich wohl in den kommenden Monaten viel meiner Zeit verbringen, stellte ich mir vor. Mir wurde bewusst, dass wir erst am Anfang der Expedition standen. Das Raumschiff würde etwa 120 Jahre brauchen, um das Planetensystem Proxima Centauri zu erreichen. Davon waren erst fünf Jahre vergangen. Am Ziel sollte der Planet Proxima Centauri b erforscht und unter Umständen eine Außenstation der Menschheit errichtet werden. Da wären schon einige Generationen in unserer Columbus geboren, aufgewachsen und ausgebildet worden. Die Besatzung des Weltraumfliegers wäre gewachsen.

 

Auf Anregung von Lena begab ich mich in das mir zugewiesene Appartement, um mich zur Ruhe zu legen. Ich sagte mir, dass ich selbst niemals das Ziel der Weltallexpedition erreichen würde, und fragte mich, warum ich mich überhaupt darauf eingelassen hatte. Das war höchst unwahrscheinlich! Ich kenne mich doch … 

 

Das bin doch nicht ICH!

 

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