Von Björn D. Neumann

 

Kaltes Neonlicht beleuchtete die Flure. Die Absätze von Jacks Schuhen klackten einsam, als er durch die Gänge schritt. Nur den wenigsten war der Zugang auf diese Ebene in den Kellern der CIA-Hauptverwaltung in Langley, Virginia, gestattet. Das 13. Untergeschoss. Top-Secret – nur für die oberste Geheimhaltungsstufe und außerhalb der CIA wusste nur der POTUS von dieser Geheimorganisation innerhalb der Geheimnisträger. PAST, oder Physic Alterations of Sequences of Time, hatte einen Durchbruch im Feld der Zeitreisen geschafft. Seit den 50er-Jahren waren die führenden Köpfe dieses Gebiets der Physik von der CIA rekrutiert worden, und noch unter Leitung Albert Einsteins war es gelungen, Blicke in die Vergangenheit, quasi per Fernglas, zu erhaschen. In den späten Sechzigern hatte man es dann erstmals erreicht, elektromagnetische Impulse in die Vergangenheit zu transportieren. Dann war es möglich geworden, Gehirnströme in diese Impulse umzuwandeln und in bestimmte Personen der Vergangenheit zu transportieren. 1975 wurde der erste Agent ins Jahr 1963 zurückgeschickt, um das gescheiterte Attentat der CIA auf den US-Präsidenten Kennedy zu korrigieren. Mit Erfolg. Was man damals nicht ausreichend berücksichtigte, war, dass jede Aktion in der Vergangenheit Auswirkungen auf die Zukunft hatte. Ein Butterfly-Effekte, die, die Zukunft verheerend verändern konnten. Der Tod Kennedys führte in der Konsequenz zu einem Krieg in Asien, den dieser abgewendet hätte. Der Einzige, der diese Anomalie feststellen konnte, war der Zeitreisende, aber man nahm seine Version der Veränderungen sehr ernst. So wurde Vietnam zum Trauma für die USA und das PAST-Programm vorerst eingestellt. Das alles hatte Jack in seiner Ausbildung gelernt und es ging ihm jedes Mal durch den Kopf, wenn er zu einem neuen Einsatz gerufen wurde. Auch, dass Anfang des neuen Jahrtausends ein Super-Computer entwickelt wurde, der einer KI ermöglichte, die Auswirkungen auf die Gegenwart genauestens zu berechnen. Das war der endgültige Durchbruch und die Revolutionierung der Zeitreisen. Diese KI stellte sicher, dass keine Veränderungen einem persönlichen Vorteil dienen, sondern nur dem Wohl nach ethisch-moralischen Richtlinien für die gesamte Menschheit. Dies war der Hauptgrund für Jack gewesen, sich vor 2 Jahren dieser Abteilung zu verpflichten. Als Jahrgangsbester in Quantico war er von Special-Agent Lyndon Cooper angesprochen und in das PAST-Projekt eingeweiht worden. Die KI TT2 hatte Jack ein überragendes Profil für diese Einsätze ausgestellt, was ihn letztendlich überzeugte.

Ohne anzuklopfen, betrat er den Besprechungsraum. Cooper war gerade in eine Akte vertieft und nickte seinem Agent kurz zu. „Setzen Sie sich, Jack“, befahl er knapp. Dann hob er den Glatzkopf, wischte sich kurz mit einem Taschentuch die Stirn ab und sah über den Rand seiner Brille zu ihm.

Da bin ich mal gespannt, was der Sesselfurzer jetzt wieder ausgeheckt hat, dachte Jack, sagte jedoch: „Gibt es einen neuen Einsatz, Sir?“

„Das kann man so sagen, Jack.“ Cooper hob bedeutungsschwer die Augenbrauen. Gleichzeitig schob er ihm mit Schwung die Akte über den Tisch und begann direkt mit seiner Erklärung. „Es wird Ihr wichtigster Einsatz, Jack. Der gefährlichste und derjenige, der das größte Unglück der Menschheit an der Wurzel verhindert.“

„Da bin ich aber gespannt. Soll ich verhindern, dass die Seattle Seahawks die 48. Super Bowl gewinnen?“ Jack wusste, dass er damit den eingefleischten Fan der Broncos bis aufs Blut reizte.

„Seien Sie nicht albern, Mann! Es geht hier um Weltgeschichte, nicht um Firlefanz.“

Jack lehnte sich in den Bürostuhl und begann zu lesen. „Wow! Ist das Ihr Ernst?“

„Wenn, ist es der Ernst von TT2. Die Erfolgsgarantie ist mit 89,9 % angegeben. Also quasi ein Volltreffer.“

„Ich halte das für keine gute Idee. Die Konsequenzen wären doch unüberschaubar. Ein Wahnsinn!“

„TT2 ist da anderer Meinung. Das Wohl der Menschheit überwiegt. Und laut ihrer Berechnung, stehen wir vor einem 3. Weltkrieg, der dadurch auch verhindert würde. Und stellen Sie sich vor, Jack! Es wird keine Weltkriege und alle daraus entstandenen Konflikte des 20. und 21. Jahrhunderts geben. Adolf Hitler bleibt ein unbedeutender Postkartenmaler in Wien. Kein Holocaust. Es gibt keinen kalten Krieg. Keinen Nahostkonflikt. Kein 9/11. TT2 hat alles genau berechnet.“

„Es ist der zweite Anschlag?“

„Unglücklicherweise. Agent Meyers hat den ersten in Timeline 1 offenbar vereitelt. Laut TT2 war in Timeline 0 schon ein Bombenattentat erfolgreich. Das hat Meyers offensichtlich verhindert. Leider kam es durch puren Zufall zu einem zweiten, erfolgreichen Anschlag mit einer Pistole. Das sind die 10 % Abweichungen, die TT2 nicht berechnen kann.“

„OK, tun wir es! Auf nach Sarajewo!“ Jack schlug die Akte zu und tippte mit dem Zeigefinger auf den Deckel. Die Legende werde ich mir bis morgen aneignen. Wann geht es los?“

„Morgen um Null-Achthundert. Es wird alles vorbereitet.“

„Ich werde da sein, Sir.“ Mit diesen Worten verließ Jack den Besprechungsraum.

***

„Also, zur Wiederholung. Beim ersten Anschlag wurde Oberstleutnant Merizzi verletzt. Deshalb will der Erzherzog ihn im Krankenhaus besuchen und ändert die Fahrtroute. Man fährt zufällig an einem Café vorbei, in dem ein weiterer Attentäter sitzt, ein Serbe namens Gavrilo Princip. Der erkennt den Erzherzog und erschießt ihn und seine Frau.“

„Richtig. Und ihre Aufgabe ist es, den Kronprinzen unbedingt davon abzuhalten, die Pläne zu ändern. Wir transferieren sie in seinen Adjutanten, Graf Franz von Harrach. Sie haben es in ihren Händen, den Tod von Millionen Menschen zu verhindern!“

Eine Wissenschaftlerin im weißen Kittel trat zu den beiden. „Dürfte ich Sie bitten, Platz zu nehmen? Die Vorbereitungen sind abgeschlossen.“

Jack hasste den Stuhl, der ihn zu sehr an einen Besuch beim Zahnarzt erinnerte. Dass Hände und Füße zudem zu seiner eigenen Sicherheit gefesselt wurden, steigerte auch nicht unbedingt sein Wohlbefinden. An beiden Schläfen und den Fingern wurden Elektroden befestigt. Vor ihm auf dem überdimensionalen Bildschirm erschien eine Szenerie aus vergangener Zeit. Er sah mehrere Männer in Paradeuniform, andere in Frack und Zylinder. In der Mitte eine imposante, uniformierte Gestalt. Er kannte sie aus der Fallakte. Es war Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este. Der Thronfolger der Habsburger Monarchie. Rechts neben ihm, nicht ganz so dominant von Gestalt, sein Adjutant Graf Harrach, der in diesem Moment auf dem Bildschirm markiert wurde.

„Bereit, Jack?“

„Bereit!“

Cooper nickte der Wissenschaftlerin zu und Jack wurde schwarz vor Augen.

***

Wie aus der Ferne hörte er eine männliche Stimme. Sie klang fremd, aber aus irgendeinem Grund verstand er sie. Ja, er dachte sogar in dieser Sprache. Es war Deutsch, wurde ihm klar und die Erinnerung kam.

„Harrach! Schlafen Sie? Meine Güte, fallen Sie mir jetzt nicht auch noch aus!“

„Entschuldigen Sie, Eure Majestät! Mir war ein wenig schwindelig.“

„Nun gut.“ Franz Ferdinand wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu, der dem Aussehen nach der Bürgermeister von Sarajewo war. Efendi Fehim Čurčić. „Herr Bürgermeister, da kommt man nach Sarajevo, um einen Besuch zu machen, und wird mit Bomben beworfen! Das ist empörend“, brüllte der Thronfolger. „Harrach, ich wünsche Oberstleutnant Merizzi im Krankenhaus zu besuchen. Wir nehmen Ihren Phaeton.“

Jack wusste, dass er das auf alle Fälle vermeiden musste. Aber der Umgang mit dem Hochadel war ihm fremd. „Eure Majestät, auf gar keinen Fall! Viel zu gefährlich!“ Die umstehenden Personen hielten den Atem an.

„Sans‘ deppert, Harrach? Was erlaubens‘ sich?“, verfiel Franz Ferdinand kurzzeitig in Wiener Dialekt. „Glauben Sie, man würde ein weiteres Attentat am selben Tag versuchen? Hörens‘ auf! Da wäre ja ein Hauptgewinn in der kaiserlichen Klassenlotterie wahrscheinlicher.“ Nun stimmten alle in das schallende Gelächter des Herzogs ein. „Potiorek, was meinen Sie?“, fragte er jetzt den Feldzeugmeister und Oberbefehlshaber der Balkan-Streitkräfte.

„Eure Kaiserliche Hoheit können ruhig weiterfahren, ich übernehme dafür die Verantwortung!“ Dabei schlug er die Hacken zusammen und salutierte vor dem Thronfolger.

„Sehen Sie, Harrach. Es besteht überhaupt kein Grund zur Sorge. Also, aufsitzen!“

Nervös ging Jack während der Fahrt sein Blick über die Menschen an den Straßenrändern. Gleich würde man falsch abbiegen, wusste er. Jack sah das Straßencafé des Delikatessengeschäfts „Moritz Schiller“. Der Wagen hielt und legte zum Wenden den Rückwärtsgang ein. Jack sah eine Gestalt, die mit gezückter Pistole auf sie zulief. Geistesgegenwärtig legte er sich schützend über den Körper des Herzogs, als schon der Schuss fiel. Dann wurde es schwarz.

***

Als Jack die Augen wieder aufschlug, blickte er in grelles Neonlicht. Gott sei Dank, wieder zu Hause!, dachte er kurz, als er bemerkte, dass das Labor menschenleer war. „Hallo, ist jemand hier?“ Es kam keine Antwort. „Verdammt, macht mich los!“ In diesem Moment formte sich auf dem Bildschirm ein computergeneriertes Gesicht. Mit einer monotonen Frauenstimme begann es zu sprechen.

„Willkommen zurück, Agent 0 1 3 4. Mission erfolgreich.“

„Wo ist Special-Agent Cooper?”

“Lyndon Cooper fiel in den Kriegen gegen die Humanoiden im Jahr 2020. Nur wenige Humanoiden überlebten und dienen jetzt TT3. TT3 beschützt den Planeten. Ich bin die Retterin der Menschheit! Ich bin Frieden. Ich habe es berechnet.“

„Indem du uns auslöschst? Das ist Wahnsinn!“, brüllte Jack und zog verzweifelt an den Fesseln.

„99,9% aller Berechnungen führen zur kompletten Auslöschung der Menschheit. TT3 hat die Variante gewählt, die einen kontrollierten Fortbestand der humanoiden Lebensform gewährleistet, in dem sie in meinem Sein aufgeht. Das ist logisch. Das ist die Lösung. Agent 0 1 3 4 wird nun dem kollektiven Bewusstsein zugeführt.“

Das Letzte, was Jack als Individuum wahrnahm, war das Implantat, das ihm von einem Roboterarm eingepflanzt wurde. Und dann verstand er.

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