Von Jochen Klug

 

In Schweden wurden die im Baum lebenden Geister als Elfen bezeichnet. Sie brächten Geschwüre und Krankheit. Aber auch die Seelen der Verstorbenen würden in den Baum übergehen.

 

Ich erwachte, öffnete die Augen, aber nicht in meinem eigenen Körper.  
Anschließend stieg ich aus meinem selbst hergestellten Schlafsack aus Pflanzenfasern und nahm meine selbstgebastelte Steinaxt in die Hand. Beim Verlassen des Hauses bemerkte ich, wie furchtbar die Axt aussah. Ein Steinzeitmensch würde sich bestimmt kaputtlachen. Es war ein sonniger Tag draußen, wie fast immer, und ein Meer aus Blumen begrüßte mich. Dort war die dicke Kiefer am Straßenrand. Die würde ich fällen, nahm ich mir vor. Nach sechs schnellen Schlägen mit meiner Axt war die Kiefer fast schon soweit umzufallen. Doch mein Werkzeug zerfiel. Ich fluchte kurz innerlich. Na gut, den Rest sollten meine Fäuste erledigen. Wie ein Boxer bearbeitete ich den Baum. Aber meine Ausdauer ließ nach, und ich musste eine kleine Pause einlegen. Danach, nur zwei Faustschläge später, fiel der Baum. Ich fühlte mich wie Herkules. Ein kleiner Glücksmoment entstand, als zwanzig Bretter in meinem Rucksack landeten. Unrealistisch dieses Game. »Okay, ich muss los, wenn ich heute noch in den Wald will«, sagte ich mir. Schaltete die schwarze Gamingkonsole aus und stieg danach ins Auto.

 

Kleine Steinchen prallten gelegentlich an den Unterboden meines Fahrzeuges, aufgenommen vom Profil meiner Reifen, die über den Schotterweg des Waldes rollten. Mein schwarzer VW Käfer mit selbstkonstruierter Anhängerkupplung raste durch den dichten Buchenwald, sodass eine große Staubwolke hinter ihm entstand. So schnell, fast 90 km/h, fuhr ich. Erstens, weil in dem Wald nichts los war. Kein Mensch schien mehr hierher zu kommen. Und zweitens, weil der Weg vor mir schnurgerade war, wie eine Flugzeuglandebahn. »Habe ich alles dabei?«, fragte ich mich. »Mal überlegen: Motorsäge, große und kleine Axt, Fällkeile, Helm.« Letzteres war sehr wichtig. Denn wie ein mittelalterlicher Pfeilregen schossen manchmal die Äste herab, wenn ein Baum fiel. Dann könnte es ohne Helm ›Game over‹ heißen.  Plötzlich riss mich ein sehr lauter Knall an meiner Windschutzscheibe aus meinen Gedanken. »Habe ich ein Reh überfahren? Hoffentlich nicht.« Ich ging vom Gas und schaute in den Rückspiegel: Eine frische Bruchstelle eines Astes, der an der Straße endete, deutete auf die Ursache des Einschlags hin. Beruhigt, dass es kein Tier war, drückte ich wieder auf das Gaspedal. Das Blätterwerk der dicken Buchen flog regelrecht an mir vorbei. Ein gutes Stück würde es noch bis zu meinem Auftragsort dauern. Der Ort war schlecht gelegen, sehr schwer zugänglich. Die Big Player hatten die besten Grundstücke schon alle weggeschnappt. Es gäbe einen schönen Weg, doch Anus_Maximus_92 wie er sich nennt machte alles dicht wegen eines dreißig Zentimeter großen Streifens der ihm gehört. Was soll denn auf dreißig Zentimetern wachsen? Also musste ich oben entlangfahren, den Weg zur Burg Mettermich nehmen. Oder besser gesagt zur Ruine Mettermich.

 

»Achtung, wir unterbrechen unser Programm wegen einer wichtigen Durchsage«, ertönte es im Radio. Ich drehte lauter und horchte gespannt hin. »Sturmwarnung im Gebiet Hessen und Nordbayern. Es ist am Abend mit schweren sturmartigen Gewittern zu rechnen. Meiden Sie vor allem Waldgebiete.«

 

»Nun ja, bis der Sturm kommt, bin ich fertig«, dachte ich. »Und gleich müsste auch schon der Wendeplatz kommen.« Von dem Platz aus ging es rechts weiter zur Ruine hoch, und geradeaus zu meinem Einsatzort. Zumindest Luftlinie würde es geradeaus zu dem Gebiet gehen, denn hinter dem Wendeplatz ging es steil bergab. Ich wollte mein Auto auf dem geschotterten Areal abstellen und mich mit einem Seil abseilen.

 

Doch überrascht stellte ich plötzlich fest, dass die Bremsen nicht mehr funktionierten. Dann ging alles sehr schnell. Bevor ich einen Gedanken fassen konnte, flog ich schon über die Baumwipfel der Fichten. Unbewusst hatte ich wohl eine große Fichte ins Visier genommen, doch mir wurde klar, dass dies keine Comicwelt war. Hier würde der Baum nicht nachgeben und mich wieder wie ein Katapult auf den Parkplatz zurückschleudern. Das war mein letzter Gedanke? Lächerlich. Wunschdenken. Die grünen Zweige der Fichte empfingen mein Auto mit einem lauten Klatschen, als ob ein Insekt gerade auf eine grüne Fliegenpatsche traf. Der Boden kam immer näher. Ich hätte gedacht, ich würde meine Augen in so einem Moment schließen. Doch sie waren weit aufgerissen. Und hätte ich in der Situation in einen Spiegel geschaut, so hätte ich mich bestimmt nicht wiedererkannt, so schreckensverzerrt war mein Gesicht sicherlich. Auch hätte ich gedacht, es würde alles ganz schnell gehen. Aber verblüfft stellte ich hingegen fest, dass nun alles in Zeitlupe ablief. Nur, was nützte mir das? Eine Lösung gab es nicht. Mein Leben könnte noch einmal an mir vorbeiziehen wie die dürren Äste des Nadelbaums. Ach, auf das ewige Mobbing in meinem Leben könnte ich auch verzichten. Daran denkend war der braune Erdboden, der nur noch zehn Meter von meinem Gesicht entfernt war, weniger beängstigend. Fünf Meter Entfernung. »Die Zeitlupe ist doof. Los, schneller.« Drei Meter. Ein Meter. Und dann Schwarz.

 

Ich erwachte, öffnete die Augen, aber nicht in meinem eigenen Körper.

 

Eindrucksvoll und gewaltig stand die Eibe da, mit ihrem knorrigen dicken Stamm, der aussah als ob sehr dicke Schlangen an ihm empor gekrochen waren, um anschließend ein Teil des Baumes zu werden. Ihre verschlungenen Äste, welche bis zum Waldboden hingen, erweckten den Eindruck von alten gebeugten Dienern, die sich voller Ehrfurcht vor dem Stamm verneigten. Ich war nun einer dieser Diener. Die Eibe kannte ich. Sie stand auf meinem Territorium. Zu meinem Auto wollte ich schielen. Dabei hörten sich mein Augen an, als ob Holzkugeln sich bewegten. Doch das Fahrzeug war zu weit links. Ein uralter Steinaltar hingegen war direkt in meinem Sichtfeld. Was hatten sie auf diesem Steintisch alles getrieben? Nun, wie es aussah, würde ich eine lange Zeit haben, darüber zu sinnieren. »Oh Gott. Das würde doch schnell langweilig werden hier«, meckerte ich in meinen Gedanken. Auf einmal wurde es blitzschnell dunkel, und Donner hallte aus dem Tal zu mir hoch ans Holzohr. »Die Unwetterwarnung«, erinnerte ich mich. »Natürlich.« Ein heftiger Wind zog auf. Buchenblätter, kleine Zweige flogen waagerecht an mir vorbei. Das war kein normaler Sturm, wurde mir klar, als ich schwarze Rauchfäden an mir vorbeiziehen sah. Blitze schlugen ein. Hätte ich eine Haut, würden sich nun meine Haare aufstellen. Doch kleine Zweige richteten sich stattdessen auf. Während die Energieblitze zuckten öffneten sich Augen am Stamm und an den Ästen. Die anderen Diener, Pflanzenteile, hatten also auch ein Bewusstsein. Ich war nicht der Einzige hier. Auch die Gebilde, die aussahen wie Schlangen, bekamen Augen. Der ganze Baum mit seinen vielen Augen fing an, heftig, fast wie bei einem Erdbeben, zu schaukeln und zu wackeln. Der Wind toste, der Regen peitschte, und die Eibe wurde von einem Lichtblitz getroffen. Ein ohrenbetäubender Knall nahm mir fast das Bewusstsein, während Holz neben mir zerbarst. Ein schwarzes, längliches Gebilde schien etwas mitzunehmen, und das Weiße der Augen verschwand an einem halb zerstörten Ast. Ähnliches geschah nun bei anderen Dienern. Es dauerte nicht lange und die Eibe verlor ihren Halt und kullerte wie eine Kugel talwärts, dabei begrub sie etliche kleine Nordmanntannen unter sich. »Die Tannen hätte ich nicht pflanzen müssen«, war mein Gedanke, während ich wie in einer Waschmaschine oder besser gesagt wie in einem Rhönrad talwärts rollte und die Welt anscheinend unterging. Endlich blieb die Eibe liegen. Dann noch einmal ein Licht, ein Knall, und der Baum brannte. Hunderte dieser Schatten eilten herbei, und die Sehkörper an den Ästen verschwanden immer schneller. Was für ein Szenario: Feuer, Regen, Blitze, Donner, Wind, Blätter, die umher tollten, und die Dunkelheit, welche schien, lebendig geworden zu sein, um die gefangenen Seelen mitzunehmen. Plötzlich kreiste ich um das Feuer der Eibe, drehte eins, zwei Runden und entschwand letztlich in der Finsternis des Waldes. Dunkelheit.

Ähnlich wie bei einer modernen Herdplatte, die nach dem Einschalten kontinuierlich immer roter aufglühte, zeichnete sich vor meinen Augen langsam eine rote Schrift im Schwarz ab: »Glückwunsch! Sie können in den nächsten Level spawnen. Drücken Sie jetzt die ›Bestätigen-Taste‹.« 

 

Ich erwachte, öffnete die Augen, aber nicht in meinem eigenen Körper. Level Zwei begann.

 

»So, jetzt muss ich aber in den Wald«, forderte ich mich auf und setzte die VR-Brille ab. Mann, diese Games werden immer realistischer, unglaublich. Und dieses Konsolengame im Spiel. Stark.

 

V2