Von Michael Kothe

Noch im Halbschlaf reckte ich mich, streckte die Arme weit hinter meinen Kopf und füllte meinen Brustkorb mit Luft. Als meine Fäuste an die kalten Gitterstäbe am Kopfende meines Bettes stießen, war ich wach. Nun wurde mir bewusst, dass die Luft, von der meine Lungen eben nicht genug bekommen konnten, abgestanden roch. Natürlich, wieder einmal erwachte ich in der winzigen Zelle der Justizvollzugsanstalt. Das kleine Fenster ließ nicht viel Licht herein, aber bei längerem Hinsehen schälte sich der Block mit dem Frauenknast gegenüber aus dem Morgendunkel. Hämisch grinste ich, denn eigentlich hätte ich dort drüben aufwachen müssen – wenn überhaupt in einer JVA! Was in meinem früheren Leben nie in Frage gekommen wäre. Seit ich vor wenigen Tagen gefasst wurde und hier in Untersuchungshaft einsaß, amüsierte mich der Gedanke. Doch insgesamt fühlte ich mich deprimiert, weil eingeengt. Dennoch entpuppte sich der Gefängnisaufenthalt als weniger schlimm im Vergleich zu den klischeehaften Vorstellungen derer „da draußen“. Das lag daran, dass ich von Anfang an klargestellt hatte, dass mit mir nicht gut Kirschen essen sei, so ließen meine Mithäftlinge mich in Ruhe. Eine recht willkommene Abwechslung in der Eintönigkeit des tristen Alltags stellten die täglichen Vernehmungen dar, mit denen die Ermittler die Anklage wasserdicht machen wollten. In der kurzen Zeit wurden sie zur Routine, stets hatte ich Oberwasser, doch nun brachte ein neuer Ermittler frischen Wind in das Verhör. Dass er mir intellektuell überlegen war, gestand ich mir ein.

 

»In drei Sätzen? Also gut: Ich war auf dem Heimweg. Es war dunkel. Er war schneller, hat mich in den Wald gezerrt, vergewaltigt und umgebracht.“

»Wer: Er?«

»Ich!«

 

Die Vernehmung hatte mich mürbe gemacht. Meine unbedachte Antwort auf die Frage »Wer: Er?« würde dafür sorgen, dass sich demnächst Profiler, Psychologen und Psychiater mit mir beschäftigten. Die Wahrheit würden sie mir nicht glauben.

Wie war ich nun in diese missliche Lage gekommen? Ja, ich habe die Frau vergewaltigt und getötet. Aber warum? Das den Ermittlern und später dem Gericht verständlich zu machen, war eine Aufgabe, deren Erfüllung ich gut zu planen hatte.

 

Angefangen hatte es an dem Abend, als Claudia mich wieder einmal zu Überstunden genötigt hatte. Ihr gehörte die Agentur. Ich war froh, die Anstellung dort behalten zu können, denn Claudia hatte mich in der Hand. Verglichen mit dem, was sie mir antat, war es eine Petitesse, mit der sie mich erpresste: Mein akademischer Titel war gekauft. Ein Bekanntwerden dieser Tatsache hätte mich jedoch vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. 

Eine Arbeitslosigkeit hätte mich wieder in die Abhängigkeit von meinem Mann gebracht. »Mein Geld, mein Haus, meine Regeln.« Dieser Spruch war sein Credo, seine Spielregel. Obwohl er sich wie ein Tyrann aufführte, war ich ihm verfallen. Meine Anstellung in der Agentur änderte einiges. Sie bedeutete wirtschaftliche Unabhängigkeit und Anerkennung. 

»Das hatte ich dir gar nicht zugetraut.« Thorsten brachte mir Respekt entgegen, er interessierte sich für meine Arbeit. Nach und nach verbesserte sich unsere Ehe.

Bis Claudia zu einer Betriebsfeier eingeladen hatte. Mit Partnern. Die Feier fand im Restaurant eines Hotels statt. Thorsten und ich genossen das kleine Fest. Spät am Abend schlug meine Stimmung in Hilflosigkeit um, als ich nach einem Smalltalk vergeblich nach ihm suchte. Er hatte im Laufe des Tages über Übelkeit geklagt, sodass ich mir Gedanken um ihn machte. Ich wusste, dass die Gästezimmer wegen Renovierungsarbeiten nicht belegt waren. So pirschte ich mich in die oberen Stockwerke und probierte jede Tür, alle waren unverschlossen. Aus einem Zimmer wollte ich gerade wieder auf den Flur zurück, als mich ein Knarren zurückhielt. Rhythmische Geräusche, die ich nun erst bewusst wahrnahm, ließen mich in den Raum treten. Ich erwischte Thorsten in flagranti. Dass auch meine Chefin sich von der Party weggestohlen hatte, hatte ich gar nicht registriert.

Von nun an stand ich zwischen zwei Fronten. Mein Mann stand offen zu seiner Affäre, und Claudia ließ mich spüren, was sie von mir hielt. Offen redete sie über ihre Liebschaft mit Thorsten, plauderte mit meinen Kolleginnen über die Theater- und Restaurantbesuche und ließ anklingen, dass ein Abend mit ihm nicht jedes Mal auf dem Parkstreifen vor ihrer Wohnung endete. Mir trug sie nach und nach alle unangenehmen Aufgaben auf. Mein Leben in der Agentur wurde zur Hölle.

 

So konnte ich das Büro auch an jenem Abend, der mein Leben verändern sollte, erst in der Dunkelheit verlassen. 

Die Schritte hörte ich schon länger hinter mir. Mehrmals hatte ich mich umgedreht, aber niemanden entdeckt. Die Straßenlaternen ließen genügend dunklen Raum zwischen sich. Ich lief schneller. Das Blut rauschte in meinen Ohren, sodass ich seine Schritte nun überhörte. Das Erste, was ich von ihm wahrnahm, war sein Arm, den er um meine Brust legte, dann der kalte Stahl an meinem Hals. Nie hatte ich geglaubt, dass es ausgerechnet mir widerfahren könnte!

»Keinen Laut! Ich mach‘ das nicht zum ersten Mal. Denk nicht einmal an Widerstand!« 

Sein Arm zog meine Schulter herum, dirigierte mich in das Waldstück am Wegrand. Das Messer an meinem Hals war ein kräftiges Argument. Als er von mir abließ und sich aufrichtete, durchschnitt die Klinge die Halsschlagader und meine halbe Kehle. 

»Warum nur?« waren meine letzten, verzweifelten Worte, mehr vor Unverständnis als vor Entsetzen hervorgestoßen, geröchelt gegen den blutigen Schaum, der in meine Lunge floss. Ich war ihm doch zu Willen gewesen!

»Weil es mir gefällt.«

Seine Häme, die Leichtigkeit setzten in mir eine Wandlung in Gang. Während er mir beim Sterben zusah und dabei sein Hemd ordentlich in der Hose glatt strich, bäumte sich meine Seele auf. Sie wollte Rache für die Selbstverständlichkeit, mit der er sich genommen hatte, was er begehrte, und um es dann nach Gebrauch wegzuwerfen wie ein benutztes Papiertaschentuch. Mein Tod war unnötig. Nun sollte er wenigsten nicht ungesühnt bleiben!

»Du kannst es! Trau dich und glaub nicht an die Lügen deiner Kultur!«, hörte ich in mir etwas sagen. Nein, nicht sagen, es rief, es schrie lautlos in mich hinein. Spontan begriff ich, was die Stimme mir zu vermitteln suchte. Meine Seele war immer noch mit mir verbunden, so, als wolle sie noch meine Meinung zu ihrer Absicht erfahren, bevor sie dann doch tat, was sie sich vorgenommen hatte. Durch dieses Band nahm ich nackt auf dem Boden liegend und mit beiden Händen meinen Hals bedeckend, um die Blutung zu stillen und mein bisschen Leben vielleicht doch noch zu retten, wahr, dass über mir ein Kampf begonnen hatte. Zwei Seelen stritten um die Herrschaft im Körper meines Peinigers und Mörders.

»Tu es!«, hörte ich mich denken. Das letzte Lebenszeichen meines nackten, geschundenen Leibes.

 

Im Grunde gefiel mir mein neues Leben. In allem war ich Mittelmaß, aber ich war kein Underdog mehr, wurde nicht ausgenutzt wie früher von Claudia und von meinem Mann.

Die plötzliche Erinnerung führte zu einer Emotion, die sich zur Sucht auswuchs. Ich fing an, meine alte Arbeitsstätte zu beobachten, an einem Abend meinem Mann, am nächsten meiner Chefin nachzuschleichen. Oft genug verbrachten sie nicht nur den Abend zusammen, sondern auch die Nacht.

Hass wuchs in mir. Die Logik war einfach. Wenn ich Thorsten das Liebste nähme, träfe ich beide. So konzentrierte ich mich auf Claudia, kundschaftete ihren Heimweg aus, den sie nahm, wenn er sie nicht heimfuhr. Und wartete darauf, dass es bei ihr einmal später wurde genau wie damals bei mir.

An jenem regnerischen Abend folgte ich ihr. Bei diesem Wetter und zu dieser Stunde war außer uns kein Mensch unterwegs. Ich ergötzte mich an ihrer Angst. Claudia hatte mich bemerkt. Meine Schritte hatte sie gehört, hatte sich mehrmals umgedreht, mich aber im Dunkel nicht sehen können. Das Erste, was sie von mir wahrnahm, war mein Arm, den ich über ihre Brust legte, dann der kalte Stahl, den ich an ihren Hals drückte.

»Keinen Laut! Und wehr dich nicht!«

 

Die Gerichtsverhandlung war ein Medienspektakel. Alle, vom Zuschauer über die Reporter bis hin zu den Richtern, waren mit meiner Aussage überfordert. Eine Seelenwanderung war für sie unfassbar. Das Ergebnis war meine Einweisung in eine geschlossene Anstalt. 

Ich hatte mir das gründlich überlegt. Vom Wachpersonal hatte ich während meiner Untersuchungshaft keinen guten Eindruck bekommen. Engstirnig, gefühllos. Die Psychiater und sonstigen medizinischen Gutachter hingegen fand ich wissbegierig, gebildet. Sie hatten Stil. So förderte ich nach Kräften den Eindruck, sie hätten einen geistig Verwirrten vor sich.

 

Mein Alltag in der Anstalt war bestimmt durch Gespräche mit Ärzten, Psychiatern und Psychologen und durch Therapien. 

Besonders gefiel mir eine hübsche Medizinerin, die einem Professor assistierte. Ihren Stuhl hatte sie nicht ganz bis an den Tisch herangezogen, sie wollte Abstand zu mir halten, dem Mörder, dem Scheusal. Gelegentlich wischten ihre Finger eine nicht vorhandene Strähne aus ihrer Stirn, dabei sah ich, dass ihre Handflächen feucht waren. Nervös spielte sie mit dem Kugelschreiber, führte ihn ab und zu an ihren Mund, klopfte damit an ihre Lippen. 

Erregung packte mich. Diese junge Ärztin wollte ich besitzen. In Gedanken fuhren meine Finger über ihren schlanken Körper, liebkosten jeden Zentimeter ihrer Haut. Mein früheres Leben als Frau stieg in meiner Erinnerung hoch. Ich musste sie haben! Meinen Blick versenkte ich in ihre Augen, bis sie wie in Trance zu mir aufschaute und ihn erwiderte.

Hatte ich schon erwähnt, dass Seelen auch von einem lebenden Körper Besitz ergreifen können?

 

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