Von Selina Weiss

Maria erwacht aus einem ungewöhnlich tiefen Schlaf. Sie bewegt den Kopf langsam hin und her. Gott sei Dank, heute kein Schwindel. Langsam dreht sie sich auf die Seite, lässt die Beine aus dem Bett baumeln und richtet sich ächzend auf. Geschafft, ich sitze und noch immer kein Schwindelgefühl. Sie lächelt und streicht das schüttere, weisse Haar aus der Stirn. Mit der Hand tastet sie über den kleinen Tisch neben dem Bett, bis ihre Fingerspitzen die Brille berühren, die sie aufsetzt. Sie steht auf und geht behutsam mit kleinen Trippelschritten in Richtung Badezimmer. Das wird ein guter Tag, denkt sie, denn ihre Schritte sind so sicher wie schon lange nicht mehr.

Im Badezimmer setzt sie sich auf den Wannenrand. Und wie sie so dasitzt, legt sie die Hände auf die Knie und stutzt. Du meine Güte, was ist denn das? Sie starrt auf ihre Hände und runzelt die Stirn. Ich habe immer gewusst, dass alte Menschen eine dünne Haut bekommen, aber doch nicht so.» Mit den schnellsten Trippelschritten, zu denen sie fähig ist, geht sie ins Wohnzimmer und öffnet die Vorhänge. Die Sonne scheint und Maria hält die Hände ins Licht. Ihre Augen weiten sich, denn sie kann durch die Haut hindurchsehen, sieht die Blutgefässe, das Blut, das zur Hand hin und wieder zurückfliesst, die Struktur der Muskeln, Sehnen und Knochen und wie sich alles zusammen in einer wunderbaren Harmonie bewegt. Sie lächelt und denkt: wie praktisch, jetzt muss ich nie mehr geröntgt werden. Neugierig öffnet sie den Morgenmantel und staunt, als sie an sich hinuntersieht. Alle Organe sind so angeordnet, wie sie es aus Anatomiebüchern kennt. Sie sieht, wie sich das Herz hinter dem Brustbein rhythmisch bewegt, sieht das Zwerchfell, sich heben und senken im Einklang mit ihrem Atem. Weiter hinunter gleitet ihr Blick zum Dickdarm, der aussieht wie eine dicke Bratwurst. Schnell schliesst sie den Morgenmantel wieder und fröstelt. Was ist bloss mit mir geschehen? Träume ich? Sie knabbert an ihrer Unterlippe und schüttelt den Kopf. Oje, so kann ich mich nirgends mehr sehen lassen. Mit einem frisch gebrühten Kaffee setzt sie sich an den Tisch und grübelt, bis sie eine Idee hat.

Sie macht sich schön zurecht, zieht ihr elegantes Kostüm an und bindet das Haar zu einem kunstvollen Knoten. Nach einem Blick in den Spiegel entscheidet sie, den grossen Hut, der ihr Gesicht halb verdeckt, aufzusetzen. Sonst rennen die Leute, die mich sehen schreiend davon, denkt sie und kichert nervös. Zwar kann man ihr Gehirn nicht sehen, aber die Knochen des Schädels schimmern durch die dünne Haut. Kleinere und grössere Blutgefässe bedecken wie ein Spinnennetz ihr Gesicht. Die Augen liegen in tiefen Höhlen. Ich könnte als Halloweenfratze auf die Strasse gehen, denkt sie und nun ist ihr gar nicht mehr zum Lachen zumute, obwohl ihre Zähne durch die Haut und dünnen Lippen zu sehen sind, so als würde sie unablässig lächeln.

Sie verlässt die Wohnung und macht sich auf den Weg zur Universität, in der sie vor sehr vielen Jahren studiert hatte. Sie hatte mit dem Medizinstudium begonnen, bis sie Jens kennenlernte und sich von ihm schwängern liess. Was war das für ein Idiot, denkt sie und spürt, wie sich ihr Herz zusammenzieht. Gerne hätte sie ihrem Herzen beim Zusammenziehen zugesehen. Bei diesem Gedanken muss sie lachen. Eine Frau mittleren Alters geht an ihr vorbei und schaut sie misstrauisch an. Schnell senkt Maria den Kopf und zieht den Hut tiefer ins Gesicht.

Das Medizinstudium hatte sie nie beendet, aber das Interesse am menschlichen Körper blieb. Als die Kinder älter waren, schickte sie Jens zum Teufel und machte eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Damals hatte sie einen Arzt als Anatomielehrer, einen hübschen, jungen Kerl, der auf alle Fragen eine Antwort wusste. Sie bewunderte ihn und vielleicht war sie auch ein wenig verliebt, doch hatte er sich nie für sie interessiert, denn er war einiges jünger als sie.

Maria seufzt und geht weiter die belebte Strasse entlang. Niemand beachtet sie. Alte Frauen sieht man nicht, denkt sie und ist für einmal froh darüber. Ihre Schritte werden kleiner und sie muss sich konzentrieren, um nicht zu straucheln. Schon lange ist sie nicht mehr so weit zu Fuss gegangen. Und wenn doch, hat sie ihren Rollator mit dabei. Macht nichts, ich schaffe es, denkt sie und tatsächlich steht sie kurze Zeit später vor dem Haupteingang der Universität. Tapfer geht sie darauf zu und erschrickt, als sich die grossen Türen von selbst öffnen. Sie schwingen auseinander und Maria geht hinein, mit unsicheren Schritten und schaut sich um. Herrjemine, wie kann ich jemandem nach dem Weg fragen, ohne dass dieser in Ohnmacht fällt? Sie geht zu einer Reihe mit kunstvoll geschwungenen Bänken aus blankpoliertem Holz und setzt sich hin. Ihr gegenüber sitzt eine Gruppe von jungen Menschen, die sich angeregt unterhalten. Und wie sie ihnen so zusieht, erinnert sie sich an früher, als sie selbst jung und voller Wünsche und Hoffnungen war. In diesem Gebäude hatte sie ihre erste Leiche seziert. Sie erinnert sich an den Geruch des Formaldehyds, an den Moment, als sie den ersten toten Menschen sah, der Ohnmacht nahe und doch entschlossen, alles ohne Mucken durchzustehen.

Entschlossen steht Maria auf und geht auf die Gruppe der jungen Menschen zu. Sie zieht den Hut noch tiefer ins Gesicht. «Entschuldigung, könnt ihr mir bitte sagen, wo ich den Professor Trüb finde?» Sie spricht so leise, dass keiner reagiert, bis sie sich räuspert und eine junge Frau am Arm berührt. «Entschuldigung, ich suche den Professor Trüb.» Die junge Frau dreht sich ungeduldig zu ihr um. «Professor Trüb, das ist doch der ältere Arzt mit der Handprothese? Naja, der hat sein Büro im Ostflügel, in der Nähe der Seziersäle.». Die junge Frau deutet in Richtung eines langen Ganges und will sich eben umdrehen, als sie nochmals zu Maria hinsieht.  Maria bemerkt, wie die junge Frau erstarrt und jegliche Farbe aus ihrem Gesicht weicht. Ihr Unterkiefer klappt hinunter. «Ach du Scheisse.», hört Maria sie sagen. Maria lächelt und nickt ihr kurz zu, bevor sie sich auf den Weg zum Büro von Professor Trüb macht. Die Gespräche der jungen Leute verstummen und Maria spürt, wie alle Blicke ihr folgen. Davon werdet ihr noch euren Enkelkindern erzählen, denkt sie und versucht so aufrecht wie möglich, den Gang entlangzugehen.

Sie überlegt, wie der Professor wohl heute aussieht. Früher hatte er keine Handprothese, denkt sie, was ist da bloss geschehen? Sie geht weiter und liest die Namensschilder an den unzähligen Türen. Viele Jahre hatte sie die Karriere des Professors verfolgt, schliesslich war er ihr ehemaliger Anatomielehrer und sie in ihn verliebt. Nur ein kleines bisschen, aber doch so, dass sie sich heute noch daran erinnert. Endlich erreicht sie die Türe des Professors, klopft und geht hinein, ohne auf eine Antwort zu warten.

Da sitzt er am schweren Schreibtisch und blickt sie überrascht aus Augen, die durch die Brillengläser grösser wirken, an. Du meine Güte, bist du dick geworden, denkt sie, sagt aber stattdessen: «Hallo Aldo, kennst du mich noch?» Aldo steht langsam auf, den Mund vor Erstaunen so weit offen, dass er richtig dämlich aussieht. «Nein, sollte ich?», stottert er. «Na, ich bin`s, Maria, weisst du nicht mehr. Anatomiekurs für angehende Physiotherapeuten, 1982.» Aldo schaut sie weiter verständnislos an und bringt kein Wort heraus. Maria lacht und beginnt sich schnell auszuziehen, bis sie schliesslich nackt vor ihm steht. Der Ausdruck im Gesicht des Professors ändert sich langsam, seine Züge werden weich, seine Hände entspannen sich. «Mein Gott. Was für ein Kunstwerk, was für eine Schönheit.», flüstert er und lässt sich in den Sessel sinken. Maria nickt und lächelt zufrieden.