Von Cornelia Bochmann                                                   

                                                  
Claudia liest das Buch und mit jeder Zeile erkennt sie sich selbst. Jede Seite, jeder Satz und jedes Wort machen ihr bewusst, dass Katharinas Probleme ihre eigenen sind. Claudia begreift plötzlich, worunter sie seit mehr als zwanzig Jahren leidet. Schlagartig wird ihr klar, dass sie immer alles genauso wie Katharina empfunden hatte, aber bisher nicht in der Lage war, zu erkennen, dass sie vieles in ihrem Leben mit Ralf als Qual erlebt. Claudia hatte in den vergangenen Jahren die Verdrängung perfektioniert und ihr den Namen Hoffnung gegeben. Das Geschriebene ist so voller Wahrheit, dass sie die Formulierungen oft mehrmals lesen muss, weil sie in jeder Wortgruppe Teilchen ihres Lebens mit Ralf wiederfindet. Diese Erkenntnis trifft Claudia mit voller Wucht.

Claudia sieht Ralf an und erkennt ihn nicht. Ein Fremder lächelt zurück, ein bisschen beschämt. Ahnt er ihre ungeheuerliche Entdeckung? Ihr Schmerz wird größer und größer, der Schmerz einer eitrigen Wunde, die aufgebrochen den Unrat freigeben will. Sie fühlt sich schuldig, Teil einer unerträglichen Situation zu sein. 
ICH BIN NICHT SCHULDIG!
Wir spielen unsere Rollen. Meine Rolle einer Frau mit ausgeprägtem mütterlichem Instinkt passt zu der des nie erwachsen werdenden Kindes, die Ralf spielt. Stichwortgenau. Ein Stück ohne Ende, an den Tagen und in den Nächten. Ohne Ende?
ICH BIN NICHT SEINE MUTTER!
Im Gegensatz zu Ralf fühle ich mich in meiner Haut nicht wohl. Ich will eine andere Rolle. Das hat Ralf nicht zugelassen. Ich habe nicht erkannt, dass ich selbst dafür hätte sorgen müssen und nicht hätte warten dürfen, bis Ralf den Rollenwechsel möglich macht. Ich bin kein Egoist.
ICH MUSS EIN EGOIST WERDEN!
Wenn jemand mich nicht haben will, soll er fernbleiben. Es tut weh, deine Nähe zu wollen und sie nicht zu kriegen. Ich will nicht um Zuneigung buhlen. Ich kann nach endlosen Diskussionen deinen Versprechungen nicht mehr vertrauen.
MEINE VORSTELLUNGEN SIND NICHT SEINE!
Mit meinem Verhalten, eher an dich als an mich zu denken, ohne Dankbarkeit zu erwarten oder eine Gegenleistung in Anspruch zu nehmen, bin ich in Vergessenheit geraten. Das muss ich ändern. Sonst quäle ich mich weiter, zerstöre mich und alles, was erhalten bleiben muss. Die Waagschale des Nehmens hat kein Gewicht, die des Gebens schleift am Boden. Ich habe im Kopf einen Drehrumbum. 
ICH STELLE DAS GLEICHGEWICHT HER.
Heh’ Ralf, lass mich in Ruhe! Täusche mich nicht, um mir zu gefallen und meinen Vorstellungen zu entsprechen! Damit weckst du nur die Hoffnung, du könntest dich ändern. Das würde immer ein Betrug bleiben, dir gegenüber und allen anderen. Der Kreislauf begänne von Neuem.
Sei so, wie du sein willst. Sei ehrlich zu dir und zu allen, die du lieb hast, auch wenn du sie damit erst einmal enttäuschst. Du wärest dann keine unbekannte Größe mehr und berechenbar für alle. Hör endlich auf, meine Hoffnung auf Veränderung zu nähren, von der du weißt, dass du sie nie erfüllen kannst. Auch, wenn du es selbst gern hättest.
Und wenn du tief im Innersten glaubst, dass du besser ohne mich leben willst und mich nicht mehr aushalten kannst, dann bekenne dich auch dazu. Du brauchst keine Angst zu haben, dass ich deine Ehrlichkeit nicht verkrafte. Ich würde sie verstehen. Ich kann dich aber so, wie du bist, nicht mehr aushalten.
Das ist mein letztes Angebot. Ich hoffe, dass du nicht zulässt, dass wir uns bis zum letzten Ende treiben. Ich fange mit mir neu an. Die Entscheidung für dich musst du selbst treffen.

Claudia reibt sich die Augen. Ein aufgeschlagenes Buch fällt von ihrer Bettdecke zu Boden. Die Morgendämmerung schiebt die Nacht beiseite. Zärtlich streichelt sie Ralfs Wange. „Aufstehen, mein Lieber. Hast du den Wecker nicht gehört? Ich mach’ dir schnell deinen Kaffee.“ 

 

Version 2