Von Kornelia Wulf

Die Luft wiegt heut´ so schwer, denke ich, während ich mich in meinem Grasbett rekle. Von Jasmin und Rosenduft vollgesogen, in den sich ein Hauch Auspuffmief drängt. Ich höre das monotone Surren der Radprofile, eine quietschende Bremse, zu heftig bedient. Autos rauschen über die Umgehungsstraße hinter der Hecke unseres Gartens. Mein Blick klettert an der schnurgeraden Schnittfläche entlang, aus der ein paar Blättchen vorwitzig ragen. So hoch ist sie gewachsen. Die Dreimetermarke hat sie fast schon gesprengt. Hier darf jeder ein Äuglein wagen, Fremde, Freunde oder Nachbarn, nichts wird sichtbar. Den Kopf tief gebettet auf dem Kleeblattkissen, scheint die Thujafront zu wachsen. Bläht sich vor mir auf wie eine üppig begrünte Gefängnismauer. Manchmal überfällt mich ein schlimmer Traum. Alle Muskeln bretthart gespannt, stoße ich einen Kampfschrei aus und gegen die blättrige Wand gestemmt will ich die hölzerne Grenze durchbrechen. Ein raschelndes Kichern rauscht durch das Geäst. Borkige Finger halten mich fest. Bohren sich unter Strümpfe und Kleid, verwachsen mit meinem zitternden Leib. Das Gesicht von klebrigen Tränen benetzt, wache ich dann auf. Es schmeckt säuerlich bitter, wenn meine Zunge über die Lippen fährt. Seufzend wälze ich mich auf die linke Seite, sauge an einer süßen Löwenzahnblüte. Und alle Traumschrecken schrumpfen wie ein Monsterballon ein. Um seine Luft beraubt, wird er ganz klein. Ein feines Brummen in meinem Gehör. Eine fette Hummel sitzt auf dem Ohr. Ihr sattgelber Pelz kitzelt die Muschel. „Sch, sch“, summt sie heiser, räuspert sich leise, bis ihre Stimme wie klarer Honig fließt

„Frau Gräulich, Sie machen das richtig gut.“ 

Ich spüre den Stoff unter Schenkel und Waden. Straff gespannt umhüllt er das Polster. Mein Zeh malt eine Acht in weißes Kunstleder, das alle Sinne hinunterkühlt, und ich finde mich in Frau Berbers Therapiezimmer wieder. 

„Das hier ist ein geschützter Raum. Ich fange Sie auf, wenn Sie tief fallen“, sagt sie immer.

Um mich herum gewährende Stille. Ganz leise atmet die Honigstimme. Ich drehe den Kopf auf den samtenen Kissen, in Fülle verstreut auf der Sofafläche. Suchend gleitet mein Blick am Schreibtisch entlang, vorbei an der Pendeluhr, die die Unendlichkeit der Sekunden zählt, verliert sich in den Weiten der Wand. 

Wo ist nur dieses Mädchen geblieben? 

Da, zwischen den Fenstern. Es sitzt auf dem Blütenteppich – Goldlack, Rittersporn, wuchernder Mohn – im Cliprahmen, hinter Glas.

„Was sagt es Ihnen?“, hatte Berber mich letzten Montag gefragt, als ich endlos darauf starrte.

Ach, dieser Montag – was für ein Tag. Er hatte die Borsten gezückt, schon nach dem ersten Augenaufschlag, die beharrlich meinen letzten Nerv erklommen, sich in ihm festhakten wie eine Klette, auf dem Weg zu Frau Berber. Immer der Ärger im Busverkehr. Mal wieder alle Plätze besetzt, seufzte ich, in der Halteschlaufe hängend. Zunächst nur eine leichte Verstimmung. Bis ich die beiden Männer sah, Station Domplatz, die sie im letzten Moment erreichten, eher stolpernd als rennend. Der eine quetschte sich durch die Vordertür. Seine Hand platschte auf meine wie ein Frosch, glitschte über die Schlaufenfinger. Sein Keuchen surrte bis ins Mark, reizte meinen Klettennerv. Der andere, der den Hintereingang nahm, spannte ihn zum Zerreißen an, als sein Bierbauch meinem Hohlkreuz gefährlich nah kam. Die Ellbogenspitzen missbraucht zur Waffe, habe ich mich nach vorn gekämpft, alle Schlaufenkumpanen zur Seite gedrängt und mich beim nächsten Halt durch die Ausgangstür gezwängt. Mir nur eine kurze Pause erlaubt im Schatten eines Abrisshauses, gleich hinter der Ampel, Einmündung Lotstraße. Fahrig fuhren meine Finger in der Tasche herum, die über meiner Schulter hing.

Verdammt, wo sind nur die Sterilliumtücher? Der Klettennerv schrie.

Vom gröbsten Berührungsschmutz befreit (also nur die hornige Außenhaut. Die gefährlichen Keime toben sich tiefer aus, manch bittere Pille ist halt noch nicht verdaut), habe ich mein Credo neu programmiert (Herr Konfuzius – verzeih).

Heute ist das Ziel das Ziel. 

Meine Loafer trafen auf Pflasterstaub. Hohenzollerndamm. Schnurgeradeaus. Drei Stationen bin ich gerannt, Messelstraße bis Elsterplatz, dann in die Plöner eingebogen und nur ein paar Minuten zu spät bei ihr angekommen. Die Energie löste sich auf in meinem Schweiß, tropfte auf das Sofaweiß, auf das ich mich habe fallen lassen (hier darf man das, hat Berber gesagt)

Alle Glieder sackten hinab, als dieses Bild mich plötzlich fand. Was für dünne Mädchenhaut, dachte ich noch, bevor die Lider auf Halbmast sanken, spiegelklar wie aus Glas, für die es eine Schranke braucht, weil man sie nicht berühren darf. Das kleine Gesicht umrahmt von Locken, der Körper im zartlila Kleiderstoff, der sich um die Hüften bauschte. Wie geschneidert für eine Prinzessinnenpuppe. Mein Blick wanderte am Batist hinauf, folgte der Linie ihres Halses, den sie wie ein Schwänlein reckte, als sie einen Schlafmohnstängel hinter die Ohrmuschel steckte. Lippen, Nase, Augen, Stirn. Als mein Blick den Scheitel erreichte, sah ich auf ihrem Schopf (nein, keine Krone) ein grüngeschupptes Vierfüßlertier. (Ts-ts, kennst du kein Chamäleon, staunte Herr Wikipedia, als ich letzten Montag noch bei ihm vorbeischaute). Bestimmt schon ein Traum, murmelte ich leise, während die Lider endgültig herabfielen.

Erschrocken riss ich die Augen wieder auf. Oje – wie lang? Warum habe ich mich in ihn fallen lassen? Der Schlaf gibt sich freundlich, wiegt dich in seinem warmen Arm. Grenzenlos schwebst du dahin, wie auf einer Schafswollwolke. Es fühlt sich wie eine Sekunde an, doch beim Sturz in die Wachheit landest du hart. Stunden hat es wieder gedauert. 

Ich schaute hinüber zur Pendeluhr, atmete auf. Fünf Minuten nur. 

Während ich meine Beine reckte, die sich so seltsam nackt anfühlten und den Kopf auf dem samtenen Kissen drehte, nahm ich ein feines Rascheln wahr. Mein Finger suchte das linke Ohr, die andere Hand flog gleich hinterher. Das kann doch nicht wahr sein, dachte ich noch, prüfend die rechte Seite betastend, überall Locken. (Das Gehör muss frei bleiben, sage ich stets zu meinem Friseur. Wie soll ich es bitteschön sonst vernehmen, dieses dezente Bierbauchstöhnen, das sich rück-sichts-los an mich drängt?)

Meine Hände fielen hinab, versanken in einem Flaum aus luftigem Stoff, der sich um die Hüften bauschte. Wo sind Hemd und Hose geblieben, die dicht gewebte Twill-Garnhülle, die meinen Körper zusammenhält? (Jill aus Zimmer drei in meiner Wohngruppe nennt ihn immer Tarnanzug.

Vorsichtig ließ ich den Blick Richtung Fußspitze gleiten. Irgendwo ein Klirren. In meinem Hirn? Okay, dachte ich noch, jetzt ist es soweit, während ich in diese Augen starrte. Sie quollen hervor aus dem Echsenkopf, als hausten sie in zu kleinen Höhlen.

Das Schuppentier saß auf meiner Brust

Das Schwarz der Pupillen fing mich ein, schien sich wie ein Theatervorhang zu teilen. Gab Falte für Falte die Bühne frei, aufreizend langsam, um die Erwartung des Publikums auf hundert zu steigern. (Wieder dieses seltsame Klirren. Ich will hier weg, fort von der Couch. Doch die Darsteller reihen sich auf. Ich muss das Stück nochmal anschauen.)

Das Mädchen im Grasbett rekelt die Glieder und saugt an einer süßen Löwenzahnblüte. Von irgendwoher ein dumpfes Brummen. Die Hummel ist ein Blumenblatt weitergeflogen. Das Mädchen breitet die Armen aus, wünscht sich, es würden ihr Flügel wachsen, als das Tor in der Hecke sich weit öffnet. Sein Ohr vernimmt ein schweres Schreiten, Kiessteinchen, die unter Sohlen knirschen. Langsam dreht es den Kopf zur Seite, starrt auf schwarze Lacklederspitzen, die das junge Gras durchpflügen. Eine Hand lugt aus dem Anzugstoff, streichelt über seinen Kopf. 

„Komm“, sagt eine Männerstimme. „Die Mama muss heut länger arbeiten. Ich koch uns Spaghetti und wir spielen zusammen.“

Das Mädchen trottet an der Hand des Mannes. Die Stängel der Kleeblüten zucken zusammen. Als sein Schlüssel sich im Zylinder dreht und das Mädchen zögernd im Hauseingang steht, schubst er sie an. „Komm schon, los, ab in die Küche. Auf dem Tisch liegt doch noch dein Bilderbuch.“ Der Mann bindet sich eine Schürze um. Sie raschelt auf dem Stoff seiner Anzughose, als er Zwiebeln und Möhren hobelt. Den Kochlöffel aus der unteren Lade schwingt er durch die Luft wie einen Magierstab. „Zu den Nudeln zaubere ich uns Tomatensauce.“ Wie ein Kaninchen, das aus dem Zylinder lugt, starrt das Mädchen auf einen imaginären Punkt. Im Minutentakt schlägt es die Seiten um. (Warum hält es das Buch nur falsch herum?) Der Mann greift in die Nudelpackung, zwängt zwei Handvoll in sprudelndes Wasser. Den Widerstand gebrochen, knicken sie ein, winden sich in salziger Flüssigkeit. Roter Sud simmert in der Pfanne, der Mann dreht die Temperatur des Herdes herunter. 

„Ein Viertelstündchen braucht es noch, bis das Essen fertig ist. Komm, Prinzessin, lass uns spielen!“

Der Blick des Mädchens gleitet ins Nichts. Es schlenkern die Glieder, als er sie hochhebt auf den Tisch. Sie sitzt da wie eine Puppe, gefertigt aus Plastik, mit verkümmertem Rückgrat. Ich kneife die Augen fest zusammen (wo ist hier bloß der Notausgang), bis ich mich traue, wieder zu schauen.

Alles bleibt im Dunkeln.

Der Vorhang fällt. 

Während ich Frau Berber von dem Mädchen erzähle, schwing ich die Beine aus den weißen Sofatiefen. Meine Hände streicheln den Hosenstoff, betasten die Ohren, den lockenfreien Kopf. Mein Blick schwenkt hinüber zur Fensterfront. Das Mädchen im Cliprahmen zwinkert mir zu. Schwarze Augäpfel rollen im Blütenteppich, quellen aus den Schlafmohnstängeln. Das Schuppentier, nun violett gekleidet, hat sich wohl gerade umgezogen. 

„Das nächste Mal gehen wir zu zweit.“ Fest stemme ich die Füße in den Teppichboden. „Und wenn er die Tür zur Küche öffnet, sag´ ich nein.“

Den Ellbogen gestützt auf die Sessellehne, wiegt die Berber das Kinn in ihrer Handfläche.

„Frau Gräulich, Sie machen das richtig gut.“

 

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