Von Michael Voß

 

Wo bin ich? Warum ist es hier so unglaublich finster? Ich taste nach der Lampe auf dem Nachttisch. Irgendwas stimmt nicht. Zum einen liege ich auf dem Bauch und nicht wie sonst auf der Seite. Zum anderen ist mein Arm irgendwie sehr kurz und meine Finger sind anders. Und da ist kein Nachttisch. Ich liege auch nicht im Bett. Hat mein entsetzlicher Mann mich dieses Mal in den Keller geschleift, während ich schlief? Vorsichtig krabbele ich nach vorn, dahin, wo ein schwacher Lichtschein erkennbar ist.

Nein, ich bin nicht im Keller. Sondern auf einem mit Teppich bedecktem Boden, dicht an der Wand. Hinter mir das Loch, aus dem ich gerade gekommen bin. Dieses Loch kenne ich nicht. Ich blicke nach oben. Was ist das?

Langsam dämmert mir, dass es das Ehebett ist. Ich muss sehr klein sein. Vorsichtig taste ich mein Gesicht ab. Es ist haarig und ich habe lange Schnurrhaare. Und oben sind weiche, große Ohren.

Entsetzt stelle ich fest, dass ich eine Maus bin.

Der Schreck hat mich wohl ohnmächtig werden lassen, denn als ich wieder sehen, hören und denken kann, ist im Schlafzimmer der Teufel los. Ich krabbele nach vorn, bis ich etwas sehen kann. Dann sehe ich mich, offenbar völlig panisch, auf allen Vieren herumflippen und schreiend beim Versuch, unter das Bett zu gelangen, was dafür aber zu niedrig ist. Anscheinend steckt in dem Frauenkörper der Geist jener Maus, in deren Leib ich nun gefangen bin. Mein Mann, seine Cousins, unsere Söhne und mein Schwager stehen um mich herum und diskutieren.

„Gestern war sie noch völlig normal, jetzt hat sie voll einen an der Waffel“, sagt mein Mann angeekelt.

Mein Schwager ist besorgt. „Sie muss in so´n Beklopptenkrankenhaus. Die können ihr helfen.“

„Bist du bescheuert? Stell dir vor, sie plaudert da was aus. Dann haben wir die Bullen hier.“

„Die ist völlig plemplem, die quatscht nicht“, grinst einer der Cousins.

„Kein Risiko“, sagt mein Mann und zieht seine Waffe.

„Du kannst doch nicht deine Frau abknallen!“, japst mein Schwager entsetzt – ich weiß, dass er eine heimliche Schwäche für mich hat.

„Sie ist mein Eigentum“, sagt mein Mann kaltblütig und spannt den Hahn des Revolvers.

„Nein!“, schreit der Schwager.

„Ach, dir liegt wohl was an der Schlampe?“

„Sie ist keine Schlampe!!!“

„Also habt ihr doch was miteinander! Der Hurenbock und die Hündin!“

Es fallen zwei Schüsse, dann liegen mein Schwager und ich tot am Boden. Besser, mein Schwager und mein Frauenkörper.

Ich quieke erschrocken.

„Wer war das?“, blafft mein Mann. „Könnt ihr nicht mal zusehen, wenn aufgeräumt wird, ihr Weicheier?“

Verlegen schauen sich die anderen Männer gegenseitig an.

„Von uns war´s keiner“, sagt mein ältester Sohn mit fester Stimme.

„Meinetwegen. Schafft jetzt die Kadaver hier raus und kümmert euch um die Entsorgung. Nehmt den scheiß blutigen Teppich mit und beschafft einen neuen. Und nicht mehr dieses Billigzeug aus Wolle, ich will einen Perser aus Seide, verstanden?“

 

Fünf Minuten später bin ich wieder allein. Aber ich brauche Stunden, um mich zu erholen. Nicht von der Brutalität meines Mannes, an den mein Vater mich vor Jahren verkauft hat. Auch nicht von der Tatsache, dass ein Stockwerk unter mir zwei Tote in Säure aufgelöst werden, um später im Rheinwasser auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Als unfreiwillige Gemahlin eines arabischen Clanchefs bin ich Angst, Gewalt und Leiden gewohnt. Nein, ich brauche Zeit, um mich von dem Schock zu erholen, im Körper einer Maus gefangen zu sein und nicht zu wissen, wie es weitergehen soll.

 

Erst als ich durstig werde, löst sich die innere Starre und ich mache mich auf die Suche nach etwas Trinkbarem. Es ist nicht einfach für eine Maus, in einem Menschenhaus an Wasser zu kommen. Zwar ist genug davon da – zu dem luxuriösen Schlafzimmer gehört neben dem begehbaren Kleiderschrank auch ein Bad, dessen Tür offensteht. Aber ich kann keinen der Wasserhähne bedienen. In meinem Ankleidezimmer werde ich fündig. Auf dem Schminktisch – wehe, wenn ich mal nicht wie ein Model aussah – steht ein vergessenes Glas, randvoll mit Wasser. Ich staune, wie leicht ich am Vorhang hochklettern und auf den Tisch springen kann. Dort schiebe ich eine Puderdose an das Glas, steige drauf und trinke. Jetzt werde ich hungrig, aber das Essen muss warten, bis ich nachts in die Küche huschen kann.

 

In der nächsten Zeit findet ein erstaunlicher Wandel in mir statt. Standen in den ersten Tagen neben der Suche nach Speis und Trank vor allem Trauer und Verzweiflung über mein Schicksal im Vordergrund, so freue ich mich mittlerweile über meine Freiheit und Unabhängigkeit. Obendrein finde ich mich recht hübsch, vor allem die großen Knopfaugen und der Glanz meines grauen Fells haben es mir angetan. Nebenbei: Das Fell ist mega, seit ich mich in Conditioner gewälzt habe.

 

Freiheit. Ich kann jetzt überall sein. Auch da, wo ich als Frau nie hindurfte. Wie in das Büro meines Mannes, der Ort, von wo aus er seine „Geschäfte“ abwickelt. Er macht in Drogen, Prostitution, Schutzgelderpressung und Menschenhandel. Seine Stärke ist Brutalität, nicht die Cleverness und Gerissenheit, mit der mein Vater seinen Clan führt. Letzterer beschäftigt sich mit illegaler Müllentsorgung, internationalen Waffengeschäften, dem Fälschen von Papieren für auf Bestellung gestohlener Luxusautos, das Gründen von Scheinfirmen und Erschleichen von Subventionen – alles Dinge, die den Horizont meines Mannes übersteigen. Möglicherweise kann ich mir seine Schlichtheit zunutze machen. In mir schreit alles nach Vergeltung.

 

Ich sitze im Inneren eines orientalischen Beistelltisches im maurischen Stil, dessen gitterartige Durchbrüche mir eine gute Sicht in das Büro bieten. Hier kriege ich alles mit. In der zweiten Woche kommt meine Chance. Die Schublade mit den Wegwerfhandys ist über Nacht offengeblieben. Es ist eine Mordsschufterei, aber am Ende habe ich ein nagelneues Smartphone zuerst voll aufgeladen (schließ´ mal mit Mäusepfoten ein USB-C-Kabel an!) und danach in mein Versteck gezerrt.

Die Bedienung per Touchscreen wiederum ist mäuseleicht. Ich schalte alle Systemtöne aus und dimme die Bildschirmhelligkeit herunter. In den nächsten Wochen nehme ich mehrere Videos durch die Gitteröffnungen hindurch auf. Alle Videos lade ich in eine Cloud hoch und lösche sie anschließend von dem Gerät.

Nach gut acht Wochen habe ich genug. Die Videos dokumentieren Tötungsbefehle und belegen eindeutig die verschiedenen Machenschaften meines Mannes. Ich schicke eine eMail mit dem Link und dem Passwort zu meiner Cloud an die Staatsanwaltschaft unserer Stadt. Darin auch ein Hinweis, wo das Smartphone versteckt ist.

 

Drei Tage später findet die filmreife Razzia statt. Maskierte Männer in schusssicheren Westen stürmen das Haus, es gibt einen Toten und sieben Verletzte. Nach dem SEK kommen andere Polizisten. Zuerst holen sie mein Smartphone aus dem Beistelltisch, dann stellen sie das Anwesen auf den Kopf. Am Ende nehmen sie zwei Möbelwagen voll Zeugs mit.

Gegen Abend ist Ruhe eingekehrt. Ich verlasse mein Mauseloch hinter der Wandverkleidung im Schlafzimmer und mache mich auf den Weg in die Küche.

 

Kurz vor der offenen Tür halte ich an. In der Küche brennt das Licht, am Tisch sitzen ein Polizist und eine alte Frau in orientalischen Gewändern.

„Also nochmal“, sagt der Uniformierte und gießt der Frau einen Kaffee ein. „Sie wollen die Frau des Clanchefs retten?“

Die Alte nickt. „Genau, Farah. Wissen Sie, ich war einst ihre Hebamme.“

„Aber diese Farah ist spurlos verschwunden.“

„Ihr Körper, gewiss. Ihr Geist und ihre Seele jedoch sind noch hier.“

Woher weiß die Alte das? Neugierig bewege ich mich etwas vor, bleibe aber im Schatten des Türrahmens.

„Also, ich bin nur ein Polizist, der den Tatort bewacht. Von Zauberei und Seelenwanderung verstehe ich nichts. Aber solange sie hier nichts anfassen oder anzünden, können Sie meinetwegen Beschwörungen und Totentänze aufführen.“

„Das ist nicht nötig. Farah steht bereits auf der Schwelle.“

Kann die Frau hexen? Sie hat noch nicht ein einziges Mal zu mir geguckt! Erst jetzt sieht sie mich an, zusammen mit dem Polizisten. In mir kämpfen Fluchtreflex und Hoffnung, aber ich bleibe stehen.

„Das ist eine Maus!“, sagt der Polizist.

„Richtig“, sagt die Alte und lächelt mich an. „Farah, hör mir gut zu: Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, denn sie können in Erfüllung gehen.“

 

Es dauert einen langen Moment, dann trifft mich die Erkenntnis mit Wucht. Am jenem Abend, bevor ich am nächsten Morgen in diesem pelzigen Körperchen erwachte, hatte mein Mann mich wieder einmal vergewaltigt. Wie immer, konnte ich danach nicht schlafen, Schmerzen und Scham hatten mich die halbe Nacht wachgehalten.

Wäre ich nicht so schön, hatte ich gedacht, hätte mein Vater mich nie an dieses Monster verkaufen können. Ich wünsche mir sehnlichst, einfach nur eine graue Maus zu sein.

 

„Ich sehe, es ist angekommen“, sagt die Alte. Sie bedankt sich bei dem Polizisten für den Kaffee, der sie darauf zur Haustür bringt.

 

Wie betäubt gehe ich zu meinem Versteck zurück. Meine Hebamme – eine gedankenlesende Magierin? Es dauert, bis ich schlafen kann.

Am nächsten Tag überlege ich mir, was ich mir wünschen soll. Möchte ich wieder ein Mensch sein? Eine Frau? Oder lieber ein Mann? Will ich groß sein? Oder klein? Schwarz, braun, gelb, rot oder weiß? Jung oder alt? Hm, vielleicht sollte ich doch lieber ein Tier bleiben. Ja, eine Tigerin! Nein, die werden nur gejagt oder vegetieren in Zoos dahin. Dann besser ein geschützter Baum in einem Nationalpark.

Alles Blödsinn!, denke ich, hundemüde nach einem langen Tag voller Grübelei. Voller Hoffnung lege ich mich auf den Diwan im Wohnzimmer, schließe ich die Augen und wünsche mir eine Existenz in Frieden, Freiheit und Freude.

 

Als ich erwache, ist mein Fell weg.

 

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