Von Christiane Labusga

 

„Scha-atz, aufstehen!“

Wer schatzt mich denn da an, träume ich etwa noch? Ich blinzele unter den Lidern in einen strahlend hellen Raum.

„Los, auf!Wir wollen doch noch einkaufen, bevor wir die Alten besuchen.“

Welche Alten? Was ist das für eine Frau?

„Ach, du bist ja schon wach!“

Sie beugt sich ganz dicht über mich, ich kann sie riechen. Oh, nein: Sie will mir einen Kuss geben!

Mit einem Ruck setze ich mich auf und stoße sie grob von mir. Wenn das ein Albtraum ist, dann muss er aufhören. Sofort!

„Alfi, das hat jetzt echt wehgetan,“ sie reibt sich das linke Schlüsselbein.

„Alfi, Alfi,“ äffe ich ihr nach. „Ich heiße Miriam!“

„Verdammt, Alfi, Greta hat heute Geburtstag und du kommst mit! Auch wenn du Peters Vorträge nicht magst. 92 wird man nicht alle Tage!“

Was ist das nur für ein hartnäckiger Albtraum?

 

Weg von dieser Irren! Vom Bett zur Zimmertür ist es nur ein Sprung.

„Ich muss ins Bad. Wo finde ich das?“

„Alfi, du hast einen Knall. Lass‘ mich mit dem Blödsinn in Ruhe!“

Dann eben nicht. Im Flur öffne ich alle Türen, am Ende des Ganges dann endlich das Bad.

Und der Spiegel.

Was für ein Albtraum! Ich blicke in das Gesicht eines alten Herrn. Trotz der verwuselten Haarreste auf seinem Kopf wirkt er im klassisch gestreiften Seidenpyjama richtig distinguiert.

Ich wende mich zur Toilette um: Wie macht „mann“ das jetzt?“

Hinsetzen! Das geht auch als Mann. Aber das halbsteife Zipfelchen, muss ich das jetzt festhalten dabei oder lasse ich es einfach hängen?

Bäh, Alfis Dödel anfassen… Aaaah!… Schon vorbei? Aber irgendwie muss ich immer noch… das muss die berühmte Prostata sein. Na, Danke! Ich will wieder Frau sein!

 

Der Albtraum geht weiter. Evi nörgelt mich sogar mit in den Supermarkt hinein. Was soll ich tun, sie tut mir ja auch leid, ist so oft kurz vorm Losheulen, reißt sich aber immer wieder tapfer zusammen. Und jetzt stehen wir an der Kasse und mir fällt natürlich die PIN von Alfis Karte nicht ein.

Ich schau zu Evi rüber, die holt tief Luft, schiebt mich nach dem zweiten Fehlversuch (sie wollte es ja so) beiseite und tippt die Nummer selbst ein.

„Alfi, so geht das nicht weiter. Wir fahren jetzt in die Notaufnahme.“

„Ja, bitte, vielleicht klärt sich da alles.“

„Ha! Willst du nicht endlich Schluss machen mit diesem blöden Spiel? Willst du es wirklich so weit treiben und auch noch Ärzte damit belästigen?“

„Oder Ärztinnen!“

„Treib‘s nicht zu weit, Alfi!“

„Miriam, nenn‘ mich bitte Miriam.“

 

Nach stundenlangem Warten, kurzer Untersuchung und weiteren Stunden des Wartens im immer voller werdenden Notfallbereich werden Evi und ich zusammen mit weiteren Patient*innen und ihren Begleiter*innen in einen großen Konferenzsaal geleitet. Anscheinend sind heute noch mehr Leute im falschen Körper aufgewacht.

Nachdem ein Herr, der unablässig nach seiner „Mammi, Mahammiiiiiiiiiiiiiiie!“ schreit, von seiner Begleitung wieder aus dem Raum gebracht wurde, betritt eine ausgemergelte Frau das Podium. Ihr Kopftuch schiebt sie lässig zum Hinterkopf, so dass ihre ungepflegten Haare seitlich herausrutschten und ihr Gesicht dunkel umrahmen. Da das Gemurmel im Raum nicht weniger wird, stellt sich noch einer der Ärzte neben die Frau:

„Bitte Ruhe, Prof. Dr. Dr. Marius von Oberstetten, der ärztliche Direktor unserer Klinik, hat Ihnen etwas mitzuteilen!“

„Ja, hm,“ räuspert sich die Dame im fliederfarbenen Arbeitskittel: „Wie Sie sehen können, bin auch ich von der heutigen, hm, Überraschung nicht verschont geblieben. Eben befinde ich mich in meinem Wagen auf dem Weg zur Klinik, da stehe ich auf einmal unten im Putzmittelraum und gieße Seife in einen Eimer…“

Die Stimmbänder der Putzfrau sind es offensichtlich nicht gewohnt, so viel zu reden, und manches verstehen die Menschen in den hinteren Reihen nicht, weswegen es wieder etwas lauter wird.

„Ja,“ fiepst die Dame, „es heißt Ruhe bewahren! Bisher haben wir die Ursache für dieses Phänomen noch nicht identifizieren können, arbeiten aber auf Hochtouren daran. Wir können Ihnen nur raten: Machen Sie es, wie ich: Egal, als wer sie sich heute Morgen gefunden haben: Gehen Sie zu Ihrer Arbeitsstätte, melden Sie sich zuhause, bringen Sie Ihren Alltag wieder in einen normalen Zustand. Um den Rest kümmern wir uns.“

Gelächter im Saal.

„Ich verstehe Ihre Skepsis. Aber: Wem es möglich ist, zu seinem Heim und zu seiner Arbeit zurückzukehren, der sollte das tun. Sonst bricht alles zusammen. Möglicherweise handelt es sich hier lediglich um eine Massenpsychose.“

 

Einer der Ärzte schiebt jetzt den Vorhang hinter dem Podium zur Seite, dahinter ein großer Bildschirm.

„Es wurde eine Pressekonferenz angekündigt, wir schalten nun ins Bundespresseamt.“

Die Gesundheitsministerin und der Arbeitsminister im Bild, flankiert von der Regierungssprecherin und ihrem Stellvertreter.

„Soweit wir das bisher einschätzen können, ist es nicht nur ein deutsches oder europäisches Phänomen, wir erhalten Berichte von der ganzen Welt. Es gibt auch erste globale, hm, Verschiebungen, also wundern Sie sich nicht, wenn Ihr Kind plötzlich Suaheli spricht.“

Bewegung bei den Regierungsvertretern, der Sprecher des Verteidigungsministeriums ist hinter die Ministerin getreten und flüstert ihr etwas ins Ohr.

„Oh, ich höre gerade, dass…, ja, wie soll ich sagen: Es wurden auch Personen entdeckt, die in, hm, sehr ungewöhnlichen Sprachen sich verständig zu machen versucht haben. Der UNSC, äh, der Sicherheitsrat der UN vermutet eine, eine… kosmologische, hm, Betroffenheit.“

Stimme aus der Gruppe der Journalisten: „Ist das jetzt der Erstkontakt? Werden wir assimiliert?“

„Nein, äh, Sie natürlich aus dem Hüpfer-Haus! Ich muss Sie alle bitten, keine Panik bei der Bevölkerung auszulösen. Noch gibt es keine sicheren Erkenntnisse. Möglicherweise ist es, äh, nur eine Massenpsychose.“

 

Na, dass jetzt alles hier in Lachen ausbri…

Was? Wo bin ich denn jetzt gelandet? In einem Babystuhl? Oh, bitte nicht!

Mir gegenüber sitzt eine junge Frau, etwa mein Alter, nur schaut sie so komisch. Vielleicht bin ich ja heute nicht das erste „andere“ Baby für sie? Mal sehen, wie sie reagiert…

„Guten Tag, mein Name ist Miriam, und wie Sie vielleicht schon in den Nachrichten gehört haben, also alles kein Grund zur Aufregung, aber irgendwie bin ich mit Ihrem Kind heute vertauscht worden. Könnten Sie mich bitte aus diesem Babystuhl herausheben?“

Die Frau schaut mich an mit ihrem merkwürdig unbeteiligten Augen.

Dann öffnet sie den Mund: „Määääääääääääääh, Mäh Mäh Määääh!“

 

Auch das noch: ein Schaf!

 

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