Von Lenny Santos

 

Mr. Stone wachte auf. Das Sonnenlicht fiel durch das Fenster seiner Kabine, Nummer 177 war es, auf dem Schnelldampfer. Er schaute hinaus auf das Meer, das sich vor ihm erstreckte.

Er dachte nach, darüber wie die Menschen das Meer zähmen wollten mit den Schiffen, die immer größer und schneller wurden. Anfangs brauchten sie die Naturkräfte, Wind und günstige Strömungen waren zur Zeit des Kolumbus unerlässlich. Heute war all dies obsolet. Mit purer Gewalt, entstanden aus dem gewaltigen Zusammenspiel von Kohle, Stahl und Feuer, bewegte sich das Schiff durch das weite Meer. Gigantische Schrauben drehten sich im Wasser, der riesige Bug, gemacht aus Nieten und Stahl, teilte das Wasser mit biblischen Kräften. Doch trotz Allem ist die Natur so viel mächtiger als all diese Errungenschaften. Sie kann das brennende Feuer in den Öfen des Schiffes löschen, sie kann den Stahl brechen und falten, sie kann den Dampfer hinabziehen und all die Gemälde und Kunstgegenstände vernichten, einen Traum des Menschen auslöschen, dachte er bei sich.

Gestern hatte die Natur höchstselbst Mr. Stone übermannt. Dessen wurde er sich bewusst, als er an die Reling griff. Er noch konnte das Winseln des Mannes hören, der sich gestern dort festhielt und bettelte, dass Stone ihn wieder hochziehen möge. Doch Stone folgte seinen Trieben und schlug mit einem Stock auf die Finger des Mannes. Immer wieder. Er fand faszinierend, wie er kalt plante, den Mann während der Silvesterfeier ins kalte Meer zu stoßen, sodass ihn keiner hörte, aber zugleich mit tierischer Gewalt die Tat verübte. Diese Amalgamierung von menschlichem Verstand und tierischen Trieben war doch etwas so Spannendes, dass er darüber ein ganzes Werk verfassen könnte. Er könnte das Skript anonym an einen Verlag versenden, der es sofort herausbringen würde. Dann würden Angestellte die Tantiemen immer zum Hafen bringen, wo er den Betrag abholen würde. Doch unter welchem Namen würde Stone veröffentlichen? Schon um nicht angeklagt zu werden, musste Stone ein Pseudonym nutzen, darüber war er sich im klaren. Doch wäre es nicht unmoralisch, unter dem Namen Stone zu publizieren? Mr. Stone war ein guter Mann, Vater von drei Kindern, keiner, der einen Mann wegen Spielschulden von einem Ozeandampfer werfen würde. Doch genau das hatte Mr. Stone gestern getan. Oder starb Mr. Stone schon vor der Tat, wurde er durch einen Mr. Hyde ersetzt? Hat dieser tierische Mr. Hyde den Mr. Stone mit vom Schiff gestoßen? Mr. Stone fühlte sich nicht mehr wie Mr. Stone. Er sah auf das Familienfoto auf dem Nachttisch, in die Augen seiner Kinder. Jeder sagte ihm, seine Kinder hätten seine Augen. Er sah in den Spiegel, dann wieder auf das Foto. Keine Ähnlichkeit, sagte er sich. Also tat er es wieder. Das Ergebnis blieb das gleiche. Die lieben Augen seiner Kinder konnten nicht von dem hasserfüllten Starren , das immer wieder einem lethargischen Blick wich, kommen. Da war er sich sicher. Der Rest von Mr. Stone, der nach dem Mord noch in seinem Herzen war, der sich daran heftete, der daran festhielt, war über Nacht von einer Flut weggespült worden, einer Flut aus Wut, aus Verzweiflung und Schuld. Es klopfte an der Tür. Er öffnete.

„Ja?“, grüßte er missbilligend.

„Sir, ich vermisse meinen Sohn Wesley. Er hatte sich gestern beim Pokerspiel mit einem Gentleman furchtbar zerstritten. Haben Sie ihn gesehen? Hier ein Foto.“ Die ältere Dame sah ihn an, bettelnd, mit Tränen in den Augen. Am Ende, das war sie, ganz verzweifelt.

„Nein“, erwiderte der Bewohner von Kabine 177. Mr. Stone hätte sich Zeit genommen, er hätte bei der Suche geholfen, die Dame beruhigt, er hätte nicht die Tür kaltherzig und schnell verschlossen. Nein, Mr. Stone wäre seinen Prinzipen von Güte und Liebe gefolgt. Mr. Stone war tot, das wurde dem Mann klar. Der Mann trat an die Reling und entschied sich, Mr. Stones Leiche zu bergen.

 

 

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