Von Karl Kieser

 

Irgendwas ist anders. Ich fühle mich … weich?!

Versuchsweise öffne ich ein Auge. Draußen ist es noch finster. Ich kann noch weiterschlafen. Aber wie lange genau? Ich wälze mich herum, um den Lichtschalter zu erreichen.  Wieso fühlt es sich um meinen Kopf herum so wuselig an?  Etwas rutscht auf mein Gesicht. Die Bettdecke ist das nicht. Eine Sekunde lang glaube ich an eine massive Schicht aus Spinnweben, denn es fühlt sich ähnlich klebrig an. Ekel zuckt hoch. Endlich, der Lichtschalter und das Zeug aus meinem Gesicht muss weg.
Haare?
Hat mir jemand eine Perücke aufgesetzt? Sie sind lang, strähnig, grau. Die können doch unmöglich festgewachsen sein. Der Ekel, soeben noch im Abklingen, zuckt wieder hoch. Die Bettdecke fliegt davon aber der Körper ist seltsam schwach. Schmerz glüht in meinem Rücken und wieso bin ich nackt?
Das sind doch nicht meine Beine. Und wo ist mein Schwanz? Meine Rechte greift nach unten. Da ist nichts. Nur ein dicker Busch Haare. Und ich habe Brüste. BRÜSTE!

Okay, ich träume. Das kann ja gar nicht anders sein. Aber es fühlt sich verdammt echt an. Der Schreck sitzt mir immer noch in den Gliedern, aber seitdem mir klar ist, dass ich träume, kann ich damit umgehen und werde neugierig.
Ich, im Körper einer Frau. Kann mich das zu neuen Erkenntnissen bringen?
Aber sind Erkenntnisse aus einem Traum überhaupt real verwertbar? Ich meine, könnte ich etwas damit anfangen, oder wären sie genauso irrational wie der ganze Traum?
Egal, diesen Körper werde ich mir auf jeden Fall genauer ansehen.

Mühsam klettere ich aus dem Bett und muss mich erst geradebiegen, bevor ich die ersten Schritte wage. Vorsichtig zunächst, wegen der lauernden Schmerzen. Der große Spiegel in der Diele zeigt mir die unfassliche Wahrheit.

Sie ist älter als ich. Und sie hat ihren Körper vernachlässigt. Die Haut ist zwar glatt und weich, aber besonders um die Mitte herum gibt es einige Wellen, an denen die Schwerkraft zerrt. Der Rumpf ist kompakt. Beine und Arme wirken zu dünn dafür. Sie hat ein schmales Gesicht, das auch nicht so recht zum Rumpf passen will. Man sieht noch, dass sie einmal eine hübsche Frau war. Auch die Falten, die das Leben gegraben hat, zeigen keine bitteren Züge. Es wird ihr nicht schlecht ergangen sein. Und dann die Augen: Was mich da aus dem Spiegel anstarrt, ist voll lebhafter Neugier.
Gedanklich trete ich einen Schritt zurück und versuche, die Erscheinung im Spiegel objektiv zu betrachten. Sehe ich die Augen einer fremden Frau, ebenso wie ich den fremden Körper sehe? Oder ist das meine eigene Neugier, die aus ihren Augen leuchtet? Finde ich irgendetwas von mir selbst an diesem Körper?

Nein! Rein äußerlich kann ich keine Ähnlichkeit feststellen. Nur der gedrungene Rumpf könnte am ehesten zu meiner Figur passen. Dabei fallt mir auf, sie ist größer als ich.
Gespannt auf die Gefühle, streichle ich die Brüste. Eine Hand gleitet in das Dickicht zwischen den Beinen.

Halt! Ist das nun mein Körper oder gehört er einer Fremden? Wenn er einer Fremden gehört, dann kann ich ihn doch nicht ungefragt betatschen. Muss ich mich vielleicht sogar schämen, weil ich einen fremden Körper sofort auf seine sexuellen Gefühle teste?
Aber Moment mal! Ich träume doch. Das kann nicht real sein. Im Traum darf ich mich doch wohl danebenbenehmen. Das schadet schließlich niemandem.
Mit dem Aufwachen warte ich lieber. Dieser Traum könnte noch interessant werden.

Aber diese Haare! Sie sehen aus, wie zu lange nicht gewaschen und so fühlen sie sich auch an. Überall, wo sie die Haut berühren, geben sie mir dieses speckige Gefühl. Bevor ich mich weiter mit diesem Körper beschäftige, werde ich ihm eine Dusche gönnen.

Um ins Bad zu kommen, kurve ich forsch um das Sideboard. Das heißt, ich versuche es, schwungvoll wie immer, haarscharf um die vorstehende Ecke herum, keinen Millimeter verschenkend. Doch der fremde Körper gehorcht mir nicht wie gewohnt, kracht mit Wucht gegen die Kante des Möbels.
Das wird ein gewaltiger Bluterguss. Ich weiß es augenblicklich, denn ich muss ein blutverdünnendes Mittel nehmen. Nach diesem Rumms kann ich jetzt zusehen, wie er wächst. Aber da wächst nichts. Während ich mir den schmerzenden Oberschenkel reibe, sehe ich dort nur einen roten Striemen. Sie muss ein stabileres Adergeflecht haben. Und noch etwas verwundert mich: Hätte mich der Schmerz nicht aufwecken müssen? Aber das war ja nicht einmal der erste Schmerz, erinnere ich mich. Im Moment allerdings flüstert der Rücken nur noch.
Ist dieses Erlebnis etwa doch echt? Stecke ich fest im Körper einer Frau, einer älteren Frau, älter als ich selbst?

„Langsam, Junge“, versuche ich mich zu beruhigen. „Eins nach dem anderen. Erst mal die Dusche. Vielleicht spült die ja das Fremde von mir ab.“

In den ersten Sekunden ist das Wasser kalt, wie immer. Diesmal gehe ich dem Strahl nicht aus dem Weg, hoffe darauf, dass der Schock mich in meinen eigenen Körper zurückbringt. Aber da sind immer noch die langen, überschlanken Glieder und Brüste mit einem penislosen Rumpf.
Ich stecke also wirklich fest im Körper einer Frau? Ich akzeptiere es halbherzig. Eigentlich hoffe ich immer noch irgendwie auf eine Traumlösung.

Statt Panik empfinde ich so etwas wie kreative Neugier. Aus diesem vernachlässigten Körper lässt sich doch sicher noch etwas machen. Und mit den Haaren fange ich an.

Nach Bürsten und Föhnen bin ich begeistert. Üppiges Wallehaar. So etwas hat nicht einmal Irmi. Auch das Gesicht könnte mit ein wenig Schminke noch vorteilhafter wirken. Aber damit kenne ich mich nicht aus. Irmi kann mir da sicher Tipps geben. Sehen wir uns mal den Rest an.

Hände und Füße sind groß, aber schmal und feingliedrig. Sie hat jedenfalls keinen Nagelpilz, etwas, mit dem ich selbst seit Jahren Krieg führe. Auch sonst sehe ich nur gute Grundvoraussetzungen.
Die Muskulatur ist jedoch unterentwickelt. Aber dagegen lässt sich mit dem richtigen Trainingsprogramm etwas tun. Sie scheint mir auch etwas ungelenk zu sein. Liegt sicher an den langen Gliedern und wird nach entsprechendem Muskelaufbau garantiert besser.
Und sonst?
Wirkt eigentlich alles ganz brauchbar. Bis auf den schwachen Rücken. Der verlangt sicher mehr Zuwendung und ein langanhaltendes Training, bis die Muskeln zufriedenstellend stützen.

Also, wenn ich wirklich in diesem Körper festsitze, dann werde ich das Beste daraus machen. Sollte der Leib zu einer realen Frau gehören, dann wird sie mir dankbar sein, wenn ich mit ihm fertig bin.

Aber was werden meine Freunde dazu sagen? Und Irmi, wie wird sie damit zurechtkommen? Du meine Güte, an das Problem habe ich ja noch gar nicht gedacht. Kein Mensch wird mir jemals glauben, dass sich mir eine weibliche Hülle übergestülpt hat.
Oje, das wird problematisch, denn ich bin doch immer noch ich. Mein Verhältnis zu meinem Umfeld hat sich nicht im Mindesten geändert. Nur mein Erscheinungsbild passt nicht mehr dazu. Und ich selbst? Werde ich damit klarkommen? Muss ich etwas ändern, um als Frau leben zu können?

Ach du Schreck, das zieht ja noch viel größere Kreise. Gehört meine neue Hülle zu einer realen Person? Wird die nun vermisst oder existiert sie etwa als Duplikat? Und mein alter Körper? Nun irgendwo gesteuert vom Bewusstsein einer alten Dame, oder gar für immer verschwunden? Vielleicht von meinem neuen buchstäblich „um die Ecke gebracht“? Wird das womöglich ein Kriminalfall?
Und wie soll ich Anspruch auf mein Eigentum erheben? Personalausweis, Führerschein, ich darf gar nicht daran denken. Beim letzten Personalausweis wurden ja auch Fingerabdrücke genommen. Da passt doch nichts mehr zusammen.

Nein, so geht das nicht! Das wird mir zu kompliziert. Ich muss zurück in meinen eigenen Körper, unbedingt.
Irmi!
Ich werde Irmi anrufen. Ihr fällt bestimmt etwas ein. Sie wird sich nicht einfach damit abfinden, dass ihr Kerl eine ältere Dame ist.
Aber zunächst muss ich diesen Körper gesellschaftsfähig einkleiden, ich laufe ja immer noch nackt durch die Wohnung.

Forschen Schrittes stürme ich zum Schlafzimmer. Dort sind T-Shirt und Jeans. Das muss zunächst genügen. Doch diese ungelenke Hülle mit ihren langen Gliedern kommt nicht mal reibungslos durch den Türrahmen, stolpert auch noch über die eigenen Füße. Mein Bett, gleich gegenüber der Tür, ist mir plötzlich sehr nahe. Vor allem das solide Fußende. ‚Das kann doch wohl nicht wahr sein‘, schießt es mir noch durch den Kopf. Dann gehen die Lichter aus.

Ich werde wach mit dröhnenden Kopfschmerzen. Mein Gesicht liegt in einer klebrigen Lache. Draußen ist es schon hell. Ich erinnere mich augenblicklich. Stöhnend stemme ich mich hoch. Zum Glück hat es aufgehört zu bluten. Dieser verdammte Blutverdünner.
Moment mal! Bin ich etwa wieder …? Ich vergewissere mich: Brust, Penis. Alles so, wie es sein sollte. Der Spiegel in der Diele beseitigt endgültig alle Zweifel.
Die Erleichterung überwiegt, aber die Chance, mehr über das Mysterium Frau zu erfahren, ist dahin. Schade! Was für ein interessanter Traum.
Die Wunde auf der Stirn klafft. Ob die noch genäht werden kann?

Im Badezimmer will ich mir das angetrocknete Blut abwaschen. Im Waschbecken entdecke ich ein langes, graues Haar und mehrere davon in der Haarbürste. Auf meinem linken Oberschenkel prangt ein veritabler Bluterguss.
Du lieber Himmel, wie soll ich denn das verstehen? Es war doch Sie, die gegen das Sideboard gerannt ist.

Und wie soll ich das Irmi erklären? Ich tappe ja selbst im Dunkeln.
Wenn ich mich nicht lächerlich machen will, dann ist es wohl besser, die Klappe zu halten und alle Spuren zu beseitigen.

V2