Von Ingo Pietsch

Ich wachte auf und hatte fürchterlich Durst.
Licht fiel durch die Jalousien und ich musste mich erst in der fremden Umgebung orientieren.
Durch den Alkohol immer noch leicht vernebelt, schlüpfte ich unter der Satin-Bettwäsche hervor. Sie roch nicht mehr frisch, was kein Wunder war, nachdem, was wir hier gestern Abend veranstaltet hatten.
Jared, ich glaube, dass es sein Name war, schnarchte leise vor sich hin.
Nur mit einem Spitzen-Slip bekleidet ging ich leise ins Badezimmer und schloss die Tür.
Ich knipste das diffuse Licht vom Spiegelschrank an und ging auf die Toilette. Ein schaler Geschmack, den ich nicht genau einordnen konnte, machte sich in meinem Mund breit.
Ich spukte den Schleim ins Klo und spülte.
Am Waschbecken wusch ich mir die Hände und gurgelte ein wenig mit dem Mundwasser, das auf der Ablage stand. Das Zeug brannte höllisch und ließ mich wach werden. Jetzt schmeckte alles noch viel schlimmer und nach Pfefferminze.
Ich füllte beide Hände mit Wasser und schüttete es mir ins Gesicht. Das Wasser perlte gnadenlos an meinem Make-up ab.
Ich beugte mich vor. Der Blick in den Spiegel ließ mich erschaudern. War das wirklich ich?
Rot geränderte, grüne Augen, eine Stupsnase mit Nasenpiercing, ein voller, sinnlicher Mund, lange, gelockte, rot-blonde Haare, die mein mit Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht umrahmten.
Das war eindeutig ich – aber auch wieder nicht.
Um meine Mundwinkel und unter den Augen konnte ich eindeutig Falten ausmachen.
Aber nicht mehr vom freundlichen, ehrlichen Lachen von früher, sondern einfach nur vom Spaß haben.
Was war nur aus der treuen, liebevollen Ehefrau geworden?
Ich schreckte zurück. Wo war sie geblieben? War sie in diesem Körper gefangen?
Ich erkannte mich einfach nicht wieder.
Der Schein der Lampen ließ die Tätowierung auf meinem Oberkörper erleuchten.
Eine rote Rose blühte dort auf dem Brustbein. Eine grüne Dornenranke schlängelte sich von dort um den Bauchnabel und endete unter dem Slip in einer weiteren Rosenblüte. Die gleiche Tätowierung befand sich auch auf meinem Rücken.
Gedankenverloren zeichnete ich mit dem Zeigefinger die Ranke bis zum Bauchnabel nach. Dort verharrte mein Finger. Erinnerungen kamen in mir hoch.
Ich war Anfang Zwanzig gewesen, wohlbehütet bei meinen Eltern aufgewachsen.
Auf der Uni lernte ich meinen späteren Mann kennen. Liebe auf den ersten Blick.
Religiös erzogen heirateten wir nach schon kurzer Zeit.
Wir waren so glücklich miteinander.
Nach dem Abschluss wollten wir eine Familie gründen, aber es klappte nicht. Wir erfuhren, dass es an mir lag.
Mein Mann meinte,  dass es nicht gottgewollt sei, kinderlos zu bleiben. Eine Adoption kam für ihn nicht in Frage, auch andere Optionen nicht.
Es brach mir das Herz, als er sich von mir trennte.
Ich traf ihn erst vor kurzem zufällig auf der Straße. Er hatte eine Frau und mehrere Kinder.
Ein Stich in meinem Herzen ließ mich wieder aufschauen.
Ich war stark, selbstbewusst, erfolgreich.
„Cora, kommst du zurück ins Bett?“, hörte ich eine gedämpfte Stimme von der anderen Seite der Tür.
Cora war gar nicht mein Name.
Jedes Mal, wenn ich ausging, legte ich mir einen anderen zu.
Unzählige waren es inzwischen. Ich wollte einfach anonym bleiben.
Ich hatte doch alles, was ich wollte. Woher kamen plötzlich diese Zweifel? Ich war frei, ungebunden, konnte jeden Mann haben, den ich wollte.
Mein Blick blieb wieder an meinem Spiegelbild hängen. Erst war es unscharf, doch nach und nach verwandelte es sich in das Gesicht der liebenswerten, freundlichen Frau von vor zehn Jahren.
War es verkehrt, wieder so sein zu wollen? War es etwa zu spät?
Meine Eltern waren damals etwas irritiert gewesen, als herauskam, dass ich mir die erste Tätowierung, die auf meinem Rücken, hatte stechen lassen.
Aber sie begründeten es damit, dass es ja mein Körper wäre und ich wahrscheinlich meine Trauer über die gescheiterte Ehe damit hatte kompensieren müssen.
Sie liebten mich trotzdem, egal was komme. Auch der Rest der Familie stand immer zu mir. Aber ich hielt immer mehr Abstand, brach jeglichen Kontakt ab.
Da wir in derselben Stadt wohnten, kamen meine Eltern jeden Sonntag nach der Kirche bei mir vorbei und wollten mich besuchen. Aber ich reagierte nie auf das Klingeln.
Deshalb ließen sie jedes Mal einen Brief im Briefkasten zurück.
Und das taten sie bis heute.
Wie töricht war ich nur all die Jahre gewesen?
Das waren genau die Menschen, die sich jeder wünschte und brauchte.
Warum war ich nur so arrogant gewesen?
Die Trauer war schon längst verflogen. Wahrscheinlich war es der Stolz, es alleine geschafft zu haben, der mich verändert  hatte. Wohl eher verdorben.
Sicherlich würden viele alles dafür geben, so zu sein, wie ich es war.
Das war kein Glück, kein erfülltes Leben. Es war nur ein ausgefülltes Leben.
Eins, wo man den Problemen einfach davon laufen konnte, ohne sich ihnen ernsthaft zu stellen.
Ohne wirklich feste Beziehungen, ohne Liebe.
Ich bekam Gänsehaut am ganzen Körper. Es widert mich an.
Woher stammte diese plötzliche Einsicht? Was war nur geschehen in dieser kurzen Zeitspanne, wo ich mein wahres Ich erkannt hatte?
Ich schämte mich auf einmal, fühlte mich wirklich nackt.
Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper und fror.
„Cora? Bist du noch da?“
Die Frage riss mich nicht aus meinen Träumen zurück, denn ich war ich schon in der Realität.
Ich musste mich ändern, und zwar sofort.
Tränen liefen über meine Wangen und lösten das fast unlösbare Makeup auf.
Ich ging zurück ins Schlafzimmer und zog mich so schnell wie möglich an. Ich wollte hier weg. Angst beherrschte mich. Angst vor dem Morgen, vor der Zukunft.
Jared brabbelte davon, dass ich wieder ins Bett kommen sollte.
Aber ich wollte nicht. Alles in mir sträubte sich dagegen, hier zu bleiben.
Ich bedankte mich noch pflichtbewusst für die Nacht mit ihm und stürmte zu Tür hinaus.
Gleich als erstes morgen früh, würde ich meine Eltern anrufen und um Verzeihung bitten.
Plötzlich überkam mich ein Gefühl, dass alles gut werden würde und die Tränen begannen zu trocknen.

 

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