Von Ina Rieder

Ich erwachte an einem Morgen im Dezember. In meinem Zimmer. Es schien alles wie immer. Die Gedanken klar wie ein abgelegener Bergsee. Dennoch lag im Dunkeln, was am Abend zuvor geschehen war. 

Mich faszinierte etwas anderes. Ein breites Grinsen zeichnete sich auf meinem Gesicht ab. Dass ich lebend heimgekommen war – eine Meisterleistung! 

Es waren keine 200 Meter bis nach Hause. Doch wir hatten Winter und es war bitterkalt. Sternhagelvoll stieg ich in mein Auto und fuhr die steile, kurvige Straße zum Appartement hinunter. Ich bibberte vor Kälte und sah kaum etwas. Die Scheiben waren gefroren und die Heizung des alten 306er Peugeots hatte noch nie gut funktioniert. 

Wieso ich die massive Eisenkette, die vermutlich meine Vermieterin über die Einfahrt gespannt hatte, registrierte, konnte ich mir nicht erklären. Auch nicht, warum. Das war vorher noch nie vorgekommen. Gestern, so sturzbetrunken am Steuer, kam es mir jedenfalls mystisch vor.

‚Moment mal‘, dachte ich. ‚Das klingt absolut nicht nach mir! Ich wäre in hundert Jahren nicht besoffen in mein Auto gestiegen, um diese lächerlich kurze Strecke zu fahren. So etwas ähnelt eher Sabine, dieser oberflächlichen Zicke mit den aufgespritzten Lippen und den zu blonden Haar-Extensions …‘

Während ich darüber nachgrübelte, was am Vorabend alles passiert war, fiel mein Blick auf eine Haarsträhne, die unter der Bettdecke hervorlugte. Sie ähnelte verdächtig der Sabines. Das Handy vibrierte. 

‚Wo ist das dumme Ding?‘

Ich fand es unter dem Kopfkissen und starrte auf das Display. ‚Wenn man vom Teufel spricht!‘

„Hallo Sabine, was ist los? Hast auf die Uhr geguckt?“

„Hast du noch nicht in den Spiegel gesehen?“

Ich ließ mich mit dem Handy am Ohr zurück auf die Matratze fallen und verdrehte die Augen.

„Was für eine bescheuerte Frage! Hallo, es ist acht Uhr morgens! Ich lieg im Bett, hatte nicht mal eine Tasse Kaffee!“

„Also, ich weiß nicht wie …“, stammelte Sabine, „aber ich bin heute Morgen aufgewacht, weil ich mal musste, habe mich aufgerappelt und bin ins Bad getorkelt. Dort angekommen, habe ich …

„Sabine, es reicht jetzt! Ich bin hundemüde. Erzähl mir deine Story ein anderes Mal.“

Ich legte auf, schaltete mein Handy auf Flugmodus, sank bald in einen traumintensiven Schlaf. Die Geschehnisse von letzter Nacht tauchten in den buntesten Farben wieder vor mir auf … 

***

… Ich saß mit meinen Arbeitskollegen im hiesigen „Tanzstadl“. So ein Ap rès-Ski-Schuppen, der die Touristen aus der Umgebung anlockte. Außer uns waren nur wenige Gäste da. Die Wintersaison hatte gerade erst begonnen. Wir, die junge Crew des Hotels von gegenüber, tranken nach Feierabend fleißig Weißweinspritzer. Marco, der Lokalbesitzer, war in Spendierlaune und gab einen Schnaps nach dem anderen aus. Keiner von uns acht hatte unter Kontrolle, welche Menge Hochprozentiges die Kehle hinunterfloss. Die Stimmung wurde immer ausgelassener. Es wunderte mich nicht, dass Sabine diejenige war, die vorschlug „Wahrheit oder Pflicht“ zu spielen. 

‚Sind wir jetzt im Kindergarten?‘, fragte ich mich, wollte aber nicht die Spielverderberin sein. 

So ging es reihum. Eine peinliche Frage, die wahrheitsgemäß zu beantworten war, reihte sich an die nächste. Entschied man sich für „Pflicht“ traf es einen nicht unbedingt besser. Von Wäschetausch mit einem der anderen bis jemanden von den Kollegen oder Kolleginnen zu küssen, war alles dabei.

Wie ich Sabine an jenem Abend beneidete! Ihr schien es leicht zu fallen. Ohne groß nachzudenken, beantwortete sie schamlos jede Frage oder schritt direkt zur Tat. Nicht einmal rot wurde sie dabei! Ich war das genaue Gegenteil. Leider. 

***

Seit jeher wünschte ich mir nichts sehnlicher, als eines Tages aufzuwachen und jemand anderes zu sein. Egal wer, nur nicht ich!

Es war äußerst unbequem, so zu sein wie ich. Für alle. Gott strafte mich mit einer speziellen Gabe: Empathie. So empfand ich es. Es drehte sich in meinem Fall nicht nur um eine soziale Kompetenz, die man allgemein willkommen hieß. Nein, es war mehr.

Wenn mir jemand begegnete, erkannte ich blitzschnell die Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive, ja sogar die Persönlichkeitsmerkmale meines Gegenübers. Ich saugte schwammähnlich alles in mich auf und dann passierte zudem Folgendes: Ich verstand die andere Person und konnte ihre Emotionen nachempfinden. 

Stimmungen anderer, besonders die negativen, schwappten zu mir über. Wie sehr hohe Wellen, die Wasser in ein Boot spülten. Schnell war alles nass und ich fürchtete zu ertrinken. 

Ich ertrug es nicht mehr. Es war anstrengend und energiefressend. Mit den Jahren wuchs der Widerstand in mir, wie ein Krebsgeschwür, das sich in meinem Körper ausbreitete. Anfang zwanzig war der Leidensdruck so groß, dass ich nur einen Ausweg sah: den frühzeitigen Tod. 

Doch dann funkte mir dieser eine verhängnisvolle Abend dazwischen. Und eines war so sicher wie das Hochsicherheitsgefängnis „ADX Florence“ in Colorado: Danach war ich nicht mehr dieselbe Person. 

***

‚Könnte ich nicht wie Sabine sein? Bitte!‘

„Frieda! Hier spielt die Musik!“, riss sie mich aus den Gedanken.

„Eh was?“

„Ich soll dich küssen. Ja, schau mich nicht so an. War Antons Idee, nicht meine.“

Unsere männlichen Arbeitskollegen grölten bereits: „Küssen, küssen, küssen!“

Der ein oder andere klatschte ausgelassen in die Hände. Sabine beugte sich über den Tisch und schürzte ihre fetten Lippen. Alles in mir sträubte sich. Sie erinnerte mich an einen Karpfen und ehrlich gesagt, hasste ich fette Fische. Ich redete mir ein, dass es mit geschlossen Augen nur halb so schlimm sein würde, und kam ihr vorsichtig entgegen. Ich spürte, wie das Blut in meine Wangen schoss. Kurz bevor sich unsere Lippen berührten, war mein letzter Gedanke: ‚Sabine, ich wäre so gerne du!‘

Wir küssten uns, mir schwindelte. Wellenartige Blitze durchströmten meinen Körper. Die Jungs klatschten und johlten. Wir ließen zügig wieder voneinander ab. Ich öffnete die Augen und fühlte mich eigentümlich gelöst, wie ausgewechselt. Die nächste Erinnerung, die ich hatte, war jene: ich stieg in mein Auto und fuhr betrunken zum Appartement …

***

Ich erwachte erneut, gähnte und tastete nach dem Handy. Den Flugmodus wieder deaktiviert, piepste es in einer Tour. 7 Nachrichten von einer Sabine trudelten ein. 

„Wer bitte ist das? Ich kenn keine andere Sabine. Ist das etwa Frieda? Habe ich gestern im Suff den Kontakt mit falschen Namen abgespeichert? Spinnt die?“

Ich rief die erste Nachricht auf und las.

SOS! Ich bin auf einem schlechten Trip! Hast du mitbekommen, ob mir jemand Drogen in den Schnaps getan hat? Schau mal bitte in den Spiegel und sag mir, wen du da siehst. Hoffentlich Frieda, und nicht Sabine!

Ich lachte lauthals.

‚So eine dumme Pute! Natürlich mich selbst, Sabine. Wen denn sonst? Mir doch egal, was mit der faden, sensiblen, ständig über alles nachdenkenden Frieda ist!‘

Und schon hatte ich vergessen, dass ich selbst vor jener schicksalhaften Nacht Frieda war. Als Sabine lebte es sich natürlich viel besser!

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