Von Marianne Apfelstedt

Ich öffnete die Augen und sah Schnee. Auf den Baumwipfeln, im Tal und auf den Bergen, die ihre Spitzen in den Wolken versteckten. Mir war nicht kalt, wohlige Wärme reichte bis in die Füße. Kurz schloss ich die Augen, doch das Bild änderte sich nicht. Wo bin ich?

 

Stöhnend wand ich mich aus der Decke. Schon wieder erwachte ich nach diesem Traum mitten in der Nacht. Der Winter war längst vorbei, der letzte Schnee geschmolzen und vor der Tür blühte das Scharbockskraut. Einige Kohlen im Kamin glommen noch. In das Wolltuch gewickelt, stocherte ich mit dem Schürhaken in der Glut und legte neue Scheite nach. Die ersten Flammen züngelten, entfachten ein Feuer und es wurde wärmer. Das leise Schnarchen von Saide verriet mir, dass sie tief und fest schlief. Der Mond schaute zum einzigen Fenster herein, wie ein Käselaib am Nachthimmel, als ich mich erneut in die Decken kuschelte.

 

„He, du Schlafmütze. Zeit aufzustehen. Die Hühner wollen nach draußen. Bring uns Eier mit.“ Saide zog mir die Decke weg und faltete sie zusammen. Ich streckte mich wie unsere Katze, schlüpfte in Kleid und Jacke und wickelte mir mein Wolltuch zum Schutz vor der Morgenkälte um Kopf und Schultern. Die Katzenwäsche am Brunnen spülte die letzte Müdigkeit davon. Im Stall wurde ich von vielstimmigem Gegacker begrüßt und das Federvieh flatterte nach draußen.

 

„Im Stroh lagen 12 Eier. Was riecht hier so gut?“
„Der ausgelassene Speck. Hast du besser geschlafen?“
„Nein. Wenn ich träume, fühlt es sich an, als wäre ich tatsächlich dort. Ich sah die Berge im Nebel und stand auf dem Felsen mitten im Schnee, trotzdem war mir warm. Mein Körper fühlte sich fremd an.“ Saide briet die Eier in der Pfanne und röstete das Brot auf dem Rost. Ich füllte Becher mit Tee, der Pfefferminzdampf zog durch den Raum und vertrieb den Nebel in meinem Kopf.
„In deinen Träumen liegt eine Bedeutung, die du eines Tages erkennen wirst.“ Ihre Stimme tröstete mich und der heiße Tee schmolz den Schnee des Traums.

Nacht für Nacht weckte mich der Schneetraum.

 

***

 

Wir saßen am Feuer, der Sommertag klang aus und über uns leuchtete der Abendstern.
„Meine liebe Arya, heute, an deinem 16. Wiegenfeste, möchte ich dir von deiner Mutter erzählen.“ Saide lächelte mich an und drückte meine Hand.
„Für mich bist du wie eine Tochter, die …“
„Ich bin deine Tochter“, unterbrach ich sie. Saide war mein Zuhause.
„… die ich nie hatte. Deine Mutter hieß Yara. Sie kam von den Nebelbergen. Es könnte das Gebirge sein, das du in deinen Träumen siehst. Vielleicht war es ihre Heimat? Als Yara meine Hütte fand, war sie verletzt. Ein Eber hatte ihr Pferd angegriffen. Sie musste das verwundete Tier töten und den Weg zu Fuß fortsetzen. Bei deiner Niederkunft war sie bereits schwach. Sieben Tage nach deiner Geburt, bekam sie hohes Fieber, von dem sie sich nicht mehr erholte. Vor ihrem Tod versprach ich ihr, etwas für dich bis zu deinem heutigen Geburtstag aufzubewahren, dein Erbe.“ Sie holte einen Dolch und einen Stein an einer goldenen Kette hervor und legte mir beides in die Hände. Der Stein war geformt wie eine flache Schale, nicht länger als ein Daumen. Eine Seite war glatt und schimmernd wie Perlmutt, die andere war rau und hatte die Farbe von grünem Wasser.
„Wer war Yara? War sie allein? Wo wollte sie hin?“ Hier hielt ich die Verbindung zu meiner Mutter in den Händen und fühlte – nichts. Vorsichtig zog ich den Dolch aus der Scheide. Die Klinge war so lang wie zwei Handflächen hintereinander und ich entdeckte unbekannte Runen am Griff. Ich steckte ihn zurück. Saide legte ihre Hand auf meinen Arm.
„Yara war nicht so redselig. Ich weiß nicht, warum sie allein reiste oder wohin sie wollte. Wie sie hast du lockiges schwarzes Haar, nur trug Yara ihres kurz bis zu den Schultern, auch deine grünen Augen gleichen ihren.“
„Du bist meine Mutter. Yara ist eine Fremde, die zu Asche zerfiel.“ Ich ballte die Hände zu Fäusten, sie konnte sagen, was sie wollte, sie würde immer meine Mutter bleiben. Sie war mein zu Hause, seit ich denken konnte.
„Eine Tochter könnte ich nicht mehr lieben als dich. Deine Träume hängen mit deiner Herkunft zusammen. Du musst dieses Rätsel lösen. Möchtest du die Kette anlegen?“ Ich nickte und Saide legte sie mir um. Der Anhänger lag unter meiner Kehle in der kleinen Kuhle und schmiegte sich an meine Haut. Ich spürte sein Gewicht kaum, fühlte es sich doch so an, als wäre er schon immer dort gewesen.

 

In dieser Nacht änderte sich der Traum.

Ich sah eine riesige Halle, direkt in den Felsen gehauen, in der Mitte saßen Menschen bei einem Festmahl. Im Gang hinter mir brannte kein Licht, ich atmete aus und zur Decke schwebten Nebelwolken. Plötzlich hörte ich eine Stimme in meinem Kopf. „Ich bin Zehra und ich weiß, dass du in diesem Augenblick durch meine Augen siehst. Eines Tages werden wir vereint sein. Komm zu mir, Arya.“

 

In Schweiß gebadet erwachte ich. Reise ich im Traum zu diesen Bergen, obwohl ich hier im Bett liege? Wer ist Zehra und warum habe ich das Gefühl, sie zu kennen? Sehe ich im Traum wirklich mit ihren Augen? Ein Summen dröhnte in meinen Ohren und wurde leiser, als mein Blut ruhiger in meinen Adern floss.
Ich stand am wärmenden Feuer und zerbrach mir den Kopf. Kurz darauf trat Saide hustend mit der kalten Morgenluft herein.
„Du bist schon wach? Hattest du wieder einen Traum?“ Wir bereiteten unser Frühstück zu und ich erzählte ihr vom Schneetraum. Als ich den Namen Zehra aussprach, rieselte ein Schauer meinen Rücken hinunter und zwischen den Schulterblättern stachen Nadeln in meine Haut.
„Hat Yara jemals von Zehra gesprochen?“
„Ich habe diesen Namen nie gehört. Die Stimme hat mit dir gesprochen? Frage sie nach Yara.“

 

Markttag. Dunkle Wolken verdeckten die Sonne, ich zog mein Wolltuch um die Schultern und tauchte ein in die Farben und lauten Stimmen auf dem Platz. Saide stützte sich schwer auf ihren Wanderstab und lenkte Esel und Karren in die Ecke der Kräuterfrauen. Besorgt musterte ich ihre gebeugte Gestalt. Seit wann wirkt sie so kränklich? Das kann nicht nur am Husten liegen. Auf einer Mauer sitzend besah ich mir das Gewimmel aus Menschen und Tieren. Ein Berittener fiel mir auf, der in Schwarz gekleidet, mit kurzen roten Haaren auf einem Rappen saß, der vor ungezügelter Kraft mit den Hufen scharrte. Pferd und Reiter trabten an und verschwanden in einer Seitengasse.

Ich gab dem Grautier etwas Hafer in seinen Futtersack, dann inspizierte ich die Körbe, die Saide schon vom Karren geholt hatte.
„Seid gegrüßt. Habt Ihr eine Salbe für meinen Hengst? Der Arme leidet unter den Stichen der Bremsen.“ Vor mir stand der schwarze Reiter mit den roten Haaren.
„Ihr braucht Melissensalbe.“ Mehrere Tiegel beiseiteräumend, suchte ich nach dem Gewünschten. Ich sah auf, begegnete seinen dunklen Augen, die mich musterten und unter die Haut krochen, wie die Würmer in der Erde, bis sich meine Wangen verfärbten.
„Kenne ich Euch?“, fragte ich den Fremden.
„Wohl kaum. Ich komme von weit her, meine Heimat liegt hinter den Nebelbergen.“ Mein Herz schlug schneller, als er die Berge erwähnte.
„Kennt Ihr jemanden mit dem Namen Yara?“ Der Ausdruck seiner Augen wandelte sich von Spott zu Überraschung.
„Gott zum Gruße. Wie ich sehe, hat euch Arya eine Salbe herausgesucht.“ Saide trat zu uns und nahm mir den Tiegel aus der Hand.
„Benötigt Ihr noch etwas, werter Herr?“ Die Antwort war ein glucksendes Lachen, das sich nicht so ganz aus seinem Hals befreien konnte.
„Die Salbe ist für mein Pferd wegen der Bremsenstiche. Ich kannte mal eine Frau namens Yara. Der Sommer ging viele Jahre ins Land, seit ich sie das letzte Mal sah. Sie hatte lockiges Haar in der gleichen Farbe wie deine“, wandte er sich an mich.
„Er kommt von den Nebelbergen“, erklärte ich Saide, die uns musterte.
Plötzlich prasselte Regen auf uns hernieder. Der Reiter drückte Saide eine Münze in die Hand und steckte den Tiegel ein. Wir luden Kräuter und Salben in den Karren und deckten ihn mit der Plane ab. Der Fremde packte mit an und half uns dann, den störrischen Esel in die Scheune der nahen Schenke zu bringen. Da wir das Gewitter abwarten mussten, nahmen wir dankend seine Einladung auf einen Becher Gewürzwein an. Er streckte seinen Becher über dem Tisch in die Höhe.
„Auf dein Wohl, Arya und auf das deiner Mutter Yara. Möge sie im Reich der Seelen viele Feste feiern und eines Tages wieder auf der Erde wandeln. Mein Name ist Ramiza und ich bin auf der Suche nach dir.“
„Ramiza! Ihr seid eine Frau?“, fragte ich ungläubig. Was Ramiza wieder dieses glucksende Lachen entlockte.
„Gewiss.“
„Warum suchst du nach Arya?“ Hustend griff Saide nach dem Gewürzwein.
„Liebe Saide, ich werde deine Frage gerne beantworten, denn du hast all die Jahre für Arya gesorgt.“ Zart strich Ramiza mit den Fingerspitzen über den Stein an meinem Hals, dieser vibrierte unter ihrer Berührung und auf dem Rücken spürte ich wieder das Stechen von Nadeln. Ramiza senkte ihre Stimme zu einem Flüstern.
„Du trägst die Halskette deiner Mutter. Der Anhänger ist eine Schuppe ihres Drachens Zehra. Er war der Drache deiner Mutter und ist jetzt dein.“ Ein schwarzer Wirbelsturm erfasste mich, nahm mir den Atem und ein Brennen fuhr über meinen Rücken, als würde mir die Haut abgezogen.

 

„Arya, wach auf!“ Ich erwachte in unserer Kate auf meinem Strohbett. Ramiza saß bei mir und hielt mir einen dampfenden Becher an die Lippen. Die Minze konnte den bitteren Geschmack nicht überdecken.
„Du musst austrinken, hat Saide mir aufgetragen. Sie musste zum Martel, das Kind kommt.“
„Es ist zu früh für das Kind.“ Beim Aufsetzen brannte mein Rücken, als hätte ich Nesseln unter der Haut.
„Lass mich mal sehen. Ich habe eine Salbe von Saide bekommen.“ Ich rutschte zur Seite und Ramiza schob mein Hemd nach oben. Kühle Finger verstrichen die Salbe auf meiner Haut.
„Warum brennt mein Rücken so?“
„Du trägst ein Zeichen in der Form eines Auges auf deiner Haut, geformt durch die Magie der Drachenschuppe. Zehra wartet auf uns. Du kannst eine Drachenreiterin werden.“ Traurig sah ich ihr ins Gesicht. „Ich kann jetzt nicht mit dir kommen. Ich muss Saide beistehen.“

 

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