Von Susanne Sachs

 

Tag oder Nacht?

Ich erwachte im Morgengrauen. Noch war es dunkel draußen. Am Horizont war ein erster Silberstreif erkennbar, schmal und weit entfernt.

In eine Ecke gekauert, nahm ich das eher unbewusst wahr.

Nebel, nicht weiß, sondern finster, umspann mich. Im Zimmer!

Nein, ich konnte mich nicht bewegen, saß einfach da, im Rücken die Wände. Meine Arme hatte ich um die Beine geschlungen, presste diese gegen die Brust.

Denken? Unmöglich. So sehr ich mich zwingen wollte, blieb mein Inneres hohl. Leere, absolut und abweisend. Sie begann im Kopf und breitete sich nach überallhin aus.

 

Das Bett stand keinen Meter entfernt. Eine Frau lag darin. Sie wälzte sich umher, schien einen Kampf zu führen, einen Kampf mit – sich selbst.

Vor dem Fenster wurde es heller, doch die Sonne wagte sich nicht hervor. Dichte Wolken verwehrten ihr den Zugang zur Welt.

Um mich herum blieb alles, wie es war. Mir war kalt. Es war düster. Der Tag hielt inne.

Was war mit der Frau?

Über ihre Lippen drang ein Stöhnen. Blonde Haare klebten an der Stirn und den Schläfen, ein paar Strähnen wanden sich wie Schlangen über das Kissen. Medusenhaupt. Die Bettdecke war zerwühlt und beiseitegeschoben.

Ich fühlte, nein, ich wusste von ihrer Todesangst.

 

Weg, ich wollte weg. Hilfe holen. Oder fliehen. Wie ein Hammer schlug mein Herz, raste rhythmisch einen irrwitzigen Tanz. Würde ich sterben? Der Puls beschleunigte sich weiter. Unerträglich. Kalter Schweiß troff von meinem Kinn.

Reglos in den Winkel der Zimmerwände gequetscht, harrte ich aus. Nichts ging mehr. Ich war eine Hülle, vielleicht ein Schatten. Das Vakuum zerriss mich und doch blieb ich starr. Nur die Angst quoll stetig aus dem Nichts hervor, ward zum Monster, das überall lauerte. Es war übermächtig, unmöglich dagegen anzukommen.

In stürmischem Wechsel fror oder schwitzte ich nun. Ein Schütteln erfasste mich, unabänderlich.

 

Die Frau im Bett hechelte. Immerhin, sie konnte sich rühren. Gleichwohl war sie in Panik, schlug mit den Händen die Matratze. Bald pochten Fäuste an den Bettgiebel. Dumpfe Erinnerung an eine Berührung. Das war nicht genug, sie warf sich nach rechts, dann nach links. Ihre Fingernägel bohrten sich kurz darauf in die Decke.

Ein starker Magnet, ich fühlte ihn, zog mich hin, zu ihr, und stieß mich doch ab. Ich kannte sie. Fürchterlich. Das musste ein Ende haben.

Doch ich kam nicht vom Fleck.

Der Nebel trübte die Sicht, hielt mich gefangen, in seinem stehenden Dunst.

 

„Atmen“, hauchte ich. „Tief atmen, gleichmäßig atmen.“

War ich das wirklich oder kam es von der Frau? Ich wusste es nicht. Wir waren trotz Trennung verbunden.

Atmen. Wie schwierig konnte es sein? Normal ging es von selbst. Jetzt strengte es mich an, als würde ich Gefahr laufen, zu platzen.

„Neiiin!“ Der Schrei verhallte in den Schwaden, im Zimmer.

Irgendwie gelang es mir, ruhiger zu werden, der Frau ebenfalls. Unsere Atemzüge keuchten vereint durch den engen Raum.

Ich streckte einen Finger. Endlich. Ich schloss die Augen. Nichts weiter.

 

Helligkeit drang durch die Spalten zwischen und neben den Vorhängen. Der Tag siegte über die Nacht.

Ich blinzelte ins Licht. Es umschmeichelte mich. Ausnahmsweise war ich froh, dass ich die Übergardinen nicht komplett zugezogen hatte.

Meine eine Hand strich vorsichtig übers Gesicht. Noch war die Haut feucht. Die Schrecken des frühen Morgens hallten nach, verflüchtigten sich wie abziehender Nebel. So langsam.

Rückwärtig stützte ich mich auf die Ellbogen. Besser. Ein Schwindel verblieb.

Beidseits kribbelten die Fingerspitzen. Auch das würde verschwinden. Hoffentlich.

Jetzt war fast alles egal. Ich war wieder ich – spürte meinen eigenen Körper, war in ihm zurück.

 

Gut zwanzig Minuten später saß ich auf meiner Couch. Mit den Händen umfasste ich eine Tasse Kakao, sog den süßlichen Duft in die Nase. Die Beine hatte ich seitlich angewinkelt, meine Füße unter der Kuscheldecke vergraben. Durch die Balkontür sah ich Blumen und Gras, sich im leichten Wind verbeugen. Ein Vogel pickte Krümel vom Boden.

Dieser Moment war beschaulich, war ein linderndes Bad für die geschundene Seele. Wenigstens drei Minuten lang konnte ich ihn genießen, ein echter Fortschritt. Für mich.

Seit einem Vierteljahr war ich in Behandlung, musste jeden Abend eine Pille schlucken und hatte Richtlinien für den Alltag bekommen. In winzigen Schritten merkte ich eine Besserung, die Last würde erträglicher werden. Bald.

Meine Persönlichkeit, dissoziativ gestört, bedingte die Panikattacken. Würden sie enden? Irgendwann …

 

 

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