Von Helmut Blepp

 

Ich war zwölf, spielte Fußball im Verein, rauchte heimlich im Stadtpark und hatte begonnen, mich für Mädchen zu interessieren. Vor allem aber las ich alles, was ich in die Finger bekam. Mit der Abteilung für Kinderliteratur in unserer kleinen Stadtbücherei war ich längst durch. Jetzt waren es Romane von Agatha Christie, die mir die nette alte Bibliothekarin auslieh, aber keinen Edgar Wallace, den sie mir zu meinem Seelenheil vorenthielt.

Zuhause fiel ich über die Lesering-Sammlung meiner Mutter her, einen Schmöker nach dem anderen, auch wenn ich oft nur die Hälfte des Inhalts verstand: Affäre Nina B., Glanz und Elend der Kurtisanen, Das vergessene Dorf, Billard um halb zehn …

Dann entdeckte ich im örtlichen Handelshof – das war eine Art deutscher Woolworth, in dem es von Kurzwaren über Küchenartikel bis hin zu als Grill verwendbaren Höhensonnen alles gab – einen Wühltisch mit Büchern. Fünfzig Pfennige kostete da ein Taschenbuch. Und es war richtig harter Stoff: Mickey Spillane, Nick Carter und andere Pulp-Koryphäen. Eins in die Fresse, Darling. Softpornoszenen. F… und N…-Wörter ohne Ende. Das volle Programm!

Ich zog mir rein, was mein Taschengeld-Budget hergab und mutierte zum Fachmann in Sachen Schundliteratur.

Aber dann kam der Tag!

Bei der Nachschubsicherung für meine pubertierenden Abgründe stieß ich im Wühltisch meines Vertrauens auf ein ungewöhnliches Buch. Es war in rotes Leinen gebunden, der Rücken aus blauem Kunstleder, Autor und Titel in Gold geprägt. Viel schöner als die Lesering-Buchdeckel!

Neugierig schlug ich es auf und las folgende Zeilen:

„Ich trat in jene Hallen,

Wo sie mir die Treue versprochen;

Wo einst ihre Tränen gefallen,

Sind Schlangen hervor gekrochen.“

Ich war platt!

Natürlich kannte ich Reime – aus dem Religionsunterricht. Aber das!

Ich verstand sofort, worum es da ging. Da sprach doch einer wie ich!  Nur altmodisch. Und die wenigen Worte rührten ein Gefühl in mir an, dessen ich mir hervor gar nicht bewusst gewesen war.

Das Buch war mit vier Mark fünfundneunzig ausgepreist. Ein Vermögen! Ich schnappte nach Luft und dann einen Jerry Cotton-Band, den ich mir leisten konnte.

Tagelang schaute ich nun auf dem Heimweg von der Schule immer wieder beim Handelshof vorbei, griff nach diesem unglaublichen Buch und las zum Beispiel:

„Selten habt ihr mich verstanden,

Selten auch verstand ich euch,

Nur wenn wir im Koth und fanden,

So verstanden wir uns gleich.“

Ich musste dieses Buch haben!

Abends vorm Einschlafen befielen mich Ängste, ich könnte eines Tages vor dem Wühltisch stehen, und es wäre nicht mehr da.

Gleich am nächsten Tag machte ich Kassensturz, suchte in Hosen- und Jackentaschen nach vergessenen Groschen, durchsuchte Schubladen, fand ein vollgeklebtes Rabattmarkenheft zu Einsfünfzig und quatschte Oma Elise ein Ohr ab für den fehlenden Rest.

Wenig später saß ich in meinem Zimmer, hielt meinen Schatz in Händen und las. Es war ein großartiges Gefühl, die Verse erstmals in Ruhe genießen zu können ohne den Rummel, der immer im Kaufhaus herrschte.

Das Buch wurde mein ständiger Begleiter. In der Schule, im Park, im Schwimmbad trug ich es mit mir herum, wiederholte immer wieder die schönsten Verse und trug sie meinen verständnislos dreinschauenden Freunden vor.

Aber mein Schatz ging verloren. Nach einer Kinovorstellung, in der ich vom Händchenhalten mit einer Schulfreundin verzaubert und abgelenkt war, vergaß ich meine Hirtentasche unter dem Klappsitz, darin das Buch. Erst Stunden später, nachdem ich das Mädchen nach Hause gebracht hatte, bemerkte ich den Verlust. Panisch rannte ich zurück zum Kino. Es begann schon gleich die Abendvorstellung, und die Frau an der Kasse versicherte mir, dass man am Nachmittag weder eine Tasche noch ein Buch gefunden habe. Da sie meine Verzweiflung sah, rief sie nach ihrem Mann, doch auch er bestätigte, dass er beim Ausfegen des Saales am Nachmittag keine Tasche entdeckt habe.

Tottraurig trottete ich heimwärts. Mir brannten Tränen in den Augen, so sehr schmerzte mich dieser Verlust.

Als ich die Wohnungstür aufschloss, rief meine Mutter, wo ich denn so lange geblieben sei. Ein Junge habe vorhin geklingelt und meine vergammelte Wolltasche abgegeben. Er habe meine Adresse in irgendeinem Buch gefunden, das darin gewesen sei.

Diese Nachricht hätte mich fast erneut zum Heulen gebracht, aber diesmal vor Erleichterung. Ich hatte es wieder! Wie gut, dass ich mir angewöhnt hatte, jedes meiner Bücher mit Namen und Adresse zu kennzeichnen! Wer der ehrliche Finder war, habe ich nie erfahren.

Eines Abends dann, es war einige Wochen nach diesem Vorfall, erfasste mich eine merkwürdige Unruhe. Ich fragte mich, woher sie kam, denn ich fühlte mich nicht krank, eher aufgekratzt und fahrig. Es war ein Gefühl der Erwartung, so als müsse etwas passieren. Nur wusste ich nicht, was. Als Schlafenszeit war, lag ich wach im Dunkeln. Mein Kopf brummte voller verwirrender Gedanken, die sich nicht recht fassen ließen. Stundenlang wälzte ich mich im Bett von einer Seite auf die andere, bis ich einsah, dass ich kein Auge zubekommen würde. Ich stand auf und setzte mich an meinen kleinen Schreibtisch. Alles war ruhig. Das Haus schlief. In dieser Nacht schrieb ich mein erstes Gedicht.

Das Buch, das mich damals so fasziniert hat (und es heute immer noch tut), steht in meinem Arbeitszimmer griffbereit im Regal. Es hat viel mitgemacht in all den Jahren. Der Umschlag ist fleckig und abgegriffen, die Goldprägung auf dem Rücken zum Teil abgebröselt. Aber das macht nichts. Ich weiß ja, was darauf steht: „Heinrich Heine – Buch der Lieder“.